Eine nüchterne Rechnung
Kosten und Nutzen giftiger Futtergräser
Warum sind giftige Wirkstoffe in Gräsern überhaupt erwünscht?
Weltweit werden gute Futtergräser für die Weiden von Schafen und Rindern benötigt. Das sind riesige Flächen, und sie liegen global oftmals in klimatischen Grenzbereichen, in denen Ackerwirtschaft nicht lohnend zu betreiben ist. Andreas Horchler berichtete am 8. August 2014 um 11:46 Uhr im Deutschlandfunk in der Sendung „Umwelt und Verbraucher“ in seinem Beitrag „Wachstum trotz Dürre – US-Forschung für die Landwirtschaft“ über Graszucht trotz extremer Dürre in Oklahoma (USA) mit Hilfe von Endophyten. Die Ergebnisse aus Oklahoma sollen später weltweit angewendet werden und die Wirkstoffe der Endophyten für intensiv nutzbares Futtergras in klimatischen Grenzregionen sorgen.
Viehweiden waren früher in solchen klimatischen Grenzbereichen nicht nach heutigen Vorstellungen „intensiv“ zu bewirtschaften – bis sich Gräser fanden, die dort trotz all der schwierigen Bedingungen durchhalten und als produktives Futter dienen konnten. Welch eine Begeisterung diese Gräser unter den armen Bauern dieser kargen Landschaften vor fast einhundert Jahren verständlicherweise auslösten, zeigt die „Tall Fescue Endophyte Story“, also die Entdeckungsgeschichte der Zusammenhänge zwischen dem Rohrschwingel (Tall Fescue) und gewissen Erkrankungen bei Weidetieren, die in einem gesonderten Artikel der artgerecht erscheint. Endlich eine Möglichkeit, den Tieren auch in schlechten Zeiten frisches, grünes Gras zu bieten, ohne auf getrocknete Futtervorräte angewiesen zu sein! Endlich eine Perspektive auf intensivere Wirtschaft mit mehr Tieren pro Fläche. Endlich ein Weg aus der teilweise extremen Armut dieser Bauern.
Das sind höchst verständliche Argumente, die bis heute an ihrer Kraft nichts eingebüßt haben. Bevor wir uns also fragen, was der Preis dafür ist und ob es wirklich sinnvoll und ratsam ist, weit über die von der Natur gesetzten Grenzen hinwegzugehen und „Wirtschaftlichkeit“ zu erzwingen, schauen wir uns die positiven Aspekte der Wirkstoffe an, die die Pilz-Endophyten der Wirtschaftsgräser uns bieten:
Infizierter, giftiger Rohrschwingel (Festuca arundinacea) ist im Weideland der klimatischen Übergangszone der Vereinigten Staaten weit verbreitet. Infiziertes, giftiges Deutsches Weidelgras (Lolium perenne) dagegen findet man überwiegend in den Küstenbereichen des Nordwestens und den Tälern des mittleren Westens der USA sowie auf den Weideflächen Europas, Australiens und Neuseelands. Zusammen handelt es sich um die widerstandsfähigsten und produktivsten Gräser der Welt. Die pilzlichen Wirkstoffe ermöglichen den Gräsern ein gesteigertes Wachstum und Durchhaltevermögen trotz Insektenplagen und schlechter Klima- und Bodenbedingungen.
In Neuseeland werden die Schäden durch Insektenplagen mit der erforderlichen Graslandereuerung in der Viehhaltung auf jährlich 200 Millionen NZ-Dollar geschätzt.
„Die guten Eigenschaften dieser Futtergräser sind das Ergebnis endophytischer Pilze, die die Widerstandskraft dieser Pflanzen steigern. (…) Weitere Erkenntnisse über die Reaktionen der Tiere auf dieses mit Endophyten infizierte Futtergras werden schließlich zu einem aufmerksamen Management führen, das Viehverluste durch Rohrschwingel-Vergiftung und Weidelgras-Taumelkrankheit minimieren kann.“ (Looper et al. 2010, Vortrag beim internat. Symposium “Epichloae, endophytes of cool season grasses: Implications, utilization and biology” http://www.noble.org/plant-symbionts/isfeg7)
Zu dem neuen Management der Viehweiden gehören die neuen (Zucht-) Endophyten. Sie sollen die Widerstandsfähigkeit der Gräser bei minimierten Gehalten an viehtoxischen Inhaltsstoffen verbessern. Dabei stellte sich heraus, dass die Zusammenhänge komplexer sind, als man anfangs angenommen hatte. Es ist nicht möglich, den einen, hervorragend geeigneten Endophyten zu finden oder zu züchten, mit dem man dann die Zuchtgräser gezielt infiziert. Stattdessen müssen Kompromisse gemacht werden: Da es kein „sowohl als auch“ gibt, müssen wir uns an ein „entweder oder“ gewöhnen, und zwar speziell beim Deutschen Weidelgras, während beim Rohrschwingel bisher eher ein widerstandsfähiges und gesundes Futter denkbar ist. Fletcher trug beim dem Internationalen Symposium 2010 vor:
"Das ursprüngliche Konzept sah vor, alle diese Dinge durch einen einzigen ausgewählten Endophyten zu erreichen. Dank der Entwicklung neuer Endophyten wissen wir nun mehr über die Komplexität dieser symbiotischen Beziehungen, was Umweltsicherheit sowie Gesundheit und Produktivität des Weideviehs angeht. Beim Deutschen Weidelgras führten diese Erkenntnisse zu Kompromissen oder Kosten-Nutzen-Abwägungen zwischen agrarökonomischer Robustheit und Futterqualität, aber beim Rohrschwingel waren solche Kompromisse nicht nötig. Während die biologischen Aspekte relativ klar sind, haben ökonomische / kommerzielle Faktoren ebenfalls Einfluss auf die Umsetzung vor Ort. Im Falle der Kompromisse beim Deutschen Weidelgras muss der einzelne Landwirt dieses Wissen in den Kontext seines Agrarbetriebs und seiner Umwelt setzen. Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Technologie ist es daher entscheidend, den Anwendern die nötigen Detailinformationen verständlich darzustellen und leicht zugänglich zu machen."(Vortrag beim internat. Symposium „Epichloae, endophytes of cool season grasses: Implications, utilization and biology” http://www.noble.org/plant-symbionts/isfeg7)
Gleichzeitig wies Fletcher in seinem Vortrag übrigens auf das Equine Schwingelödem hin, das durch diese patentierten sogenannten „Neuen Endophyten“ in Zucht-Rohrschwingel ausgelöst wird und tödliche Pferdevergiftungen verursacht hat. Er glaubt, dass diese Ödeme nur durch Loline in bestimmten Rohrschwingeln ausgelöst würden und ansonsten kein Problem darstellten. Da ich selber entsprechende Ödeme seit Ende der 1980er Jahren von Pferden in Norddeutschland kenne, die auf extrem abgenagten Weidelgrasweiden laufen, wäre ich mit einer solch optimistischen Aussage vorsichtig. Weidelgrasendophyten produzieren ebenfalls Loline. Die für das Schwingelödem der Pferde beschriebenen Symptome kamen mir äußerst bekannt vor, wenn sie auch hierzulande weniger heftig sind und normalerweise nicht tödlich enden.
Was spricht gegen die rein natürlichen Wirkstoffe in Wirtschaftsgräsern?
In einer höchst interessanten Veröffentlichung fassen Strickland und Mitarbeiter im Jahr 2011 den aktuellen Wissensstand über Mutterkornvergiftungen bei Weidetieren zusammen. Demnach betrugen die Verluste der Rinderproduktion durch diese Gifte 1993 in den USA 600 Millionen US-Dollar. Heute rechnen sie unter Hinzunahme der Verluste der Pferdezucht und der Schafzucht mit über einer Milliarde US-Dollar jährlich. Und dabei weisen sie noch darauf hin, dass die Symptome der Vergiftungen zumeist unerkannt bleiben. Die Schäden dürften also noch erheblich höher liegen. Daher stellt diese Vergiftung das größte gesundheitliche Kostenproblem der Weidetiererzeugung dar – und eine Lösung ist bisher nicht gefunden.
Neben den Mutterkornvergiftungen durch Gräserendophyten verursachen auch die von ihnen ebenfalls gebildeten Wirkstoffe der Lolitreme Erkrankungen beim Vieh. Die Kosten für die vom Lolitrem B (Deutsches Weidelgras) verursachte Weidelgras-Taumelkrankheit in Neuseeland wurden 1983 auf jährlich 10 NZ-Dollar pro Mutterschaf-Weideeinheit geschätzt.
Die von Strickland und anderen beim Symposium 2010 genannten häufigsten gesundheitlichen Probleme der Weidetiere sind körperliche Überhitzung, verringerte Futteraufnahme mit verringerter Gewichtszunahme sowie verringerter Fruchtbarkeit, übermäßiges Haarwachstum (Hirsutismus), gestörter (ausbleibender) Fellwechsel und ein veränderter Hormonspiegel. Viele dieser Reaktionen des Körpers mögen durch die Wirkung der Gräsergifte auf spezielle Rezeptoren und die gefäßverengende Wirkung der Gifte bedingt sein (artgerecht berichtete darüber im Beitrag "Hirsutismus"). Wissenschaftler wie Rosenkrans führten beim Symposium 2010 viele Körperreaktionen vor allem auf den Prolaktinspiegel zurück, der durch die Mutterkorngifte massiv gesenkt wird. Wie dem auch sei, für Pferdehalter interessant sind die Details zum Hormonspiegel, geschwächten Immunsystem und zum massiven Haarwachstum bei gestörtem, ausbleibenden Fellwechsel allemal.
Gras wird nicht nur frisch und saftig-grün gefressen. Ein weiterer Wirtschaftszweig verdient daher unsere Aufmerksamkeit: Grassamenstroh aus der Saatgutproduktion, das Verwendung als Viehfutter findet. In den USA wird in riesigem Stil Grassaatgut für den weltweiten Handel erzeugt. Da die Gräser teilweise sehr hohe Giftgehalte aufweisen, ist auch das Grasstroh dieser Gräser nach dem Dreschen giftig. Einige Länder, meines Wissens Japan, Südkorea und Taiwan, scheinen mit den USA spezielle Handelsabkommen zu haben. Damit soll sicher gestellt werden, dass sie als Viehfutter nur solches Grasstroh abnehmen, das unterhalb der Grenzwerte für Erkrankungen des Viehs liegt. Hier macht eine Präsentation des Endophyte Service Laboratory aus Corvallis /USA interessante Angaben. Ich zitiere aus der leider nicht mehr aufrufbaren Präsentation:
"Geschichte der Saatgut- & Stroh-Industrie Oregons
1987-1991: Das Abbrennen der Felder mit Grasstroh wird stufenweise beendet
⇾ von 250 000 acres gesenkt auf 40 000 acresDer Export von Stroh beginnt zu steigen
⇾ steuerliche Förderung des Bundesstaates Oregon für Umweltschutzmaßnahmen
⇾ Export von Grasstroh nach Japan wächst auf 250 000 t/Jahr im Jahr 1991
⇾ Saatgutkonzerne intensivieren den Gebrauch von Endophyten, um einen geringeren Einsatz von Pestiziden, Düngern und Wasser zu erzielen
⇾ Ergotalkaloidkonzentrationen im Stroh schnellen in die Höhe – Bedarf an klinischer Forschung und Erprobung sowie Forschung nach einer nachhaltigen, proaktiven Lösung
1991—1999: Grassamenexport steigt um 200% (von 250 000 auf 500 000 t/Jahr)
⇾ entsprechend 250 000 acres/Jahr, die nicht länger verbrannt werden1996: Bundesstaat Oregon stellt Mittel für die Endophytenforschung an der Oregon State University zur Verfügung
Krise in Japan
⇾ Im Jahr 1998 verbietet die japanische Regierung aus Angst vor hohen Gehalten an Endophytengiften die Einfuhr nach Japan⇾ Dr. Craig, die Saatgutindustrie und die Nationale HeuVereinigung gründen das Endophyt-Test-Programm und beteuern ihre Bemühungen darum, eine Langzeitlösung zu finden
⇾ Wiedereröffnung des Exports nach Japan
⇾ 1999-heute: Bewilligung finanzieller Mittel der OR Ag Fiber Assn, des Staates Oregon und der USDA für die Erforschung praktischer und klinischer Aspekte von mit Endophyten infizierten Futtermitteln und ihren Wirkungen auf das Vieh
⇾ 2002: der Export steigt auf über 600 000 t/Jahr"
Damit wird klar, um was für Summen, Mengen und Flächen es hier in Oregon, aber auch weltweit geht.
Ob giftiges Grassamenstroh aus den USA als Viehfutter wohl auch seinen Weg nach Europa findet? Was mag sich hinter der Bezeichnung „Grünmehl“ auf der Sackdeklaration des pelettierten Fertigfutters verbergen? Auch die Preise für Futtermittel stehen unter einem enormen Druck. Vertrauen ist gut, Kontrolle erscheint mir hier besser.
Dr. rer. nat. Renate Vanselow, Diplom-Biologin
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03.08.2017