Xenohormone tricksen den Körper aus

Unter Zigtausenden chemischen Stoffen, mit denen unsere Natur belastet ist, ist eine große Anzahl, deren Struktur Hormonen ähnlich ist.

Sie reichern sich in der Luft, im Boden und im Wasser an. Sie sind inzwischen überall. Als sehr kleine Moleküle gelangen sie über die Haut bzw. über den Atem in unseren Körper und in den Körper von Tieren – auch in Lebensmittel liefernde Tiere – und selbstverständlich über die Nahrung.

In den Körpern von Menschen und Tieren täuschen sie vor, Hormone zu sein. Sie binden an einen Hormonrezeptor und dringen auf diese Weise in das  Hormonsystem ein. Hier können sie ihre störende Wirkung entfalten. Und das unter Umständen sogar gleichzeitig im Fortpflanzungssystem, im Schilddrüsen- oder Nebennierensystem. Gleichzeitig deshalb, weil die Hormonbindungsstellen auf den Transporteiweißen oft wenig spezifisch sind und zu verschiedenen Hormonen passen.

Plastikflaschen können Weichmacher enthaltenWissenschaftlich werden sie als Xenohormone bezeichnet. Die durch Xenohormone verursachten Gesundheitsschäden führten wiederholt zu Verboten bzw. Einschränkungen durch die EU. Beispiel Bisphenol A: Dieser weit verbreitete Weichmacher in Lebensmittelverpackungen ist seit 2011 europaweit in Babyfläschchen verboten! Und bei der Herstellung von Kinderspielzeug und Babyartikeln dürfen seit 2007 bestimmte Phtalate nicht mehr verwendet werden.

Doch es geht nicht nur um Bisphenol A und Phtalate. Weitaus mehr als 20.000(!) hormonaktive Substanzen stehen heutzutage in Verdacht, sich in das Hormonsystem von uns Menschen und der Tiere „einschleichen“ zu können. Nur ein kleiner Teil hiervon ist wissenschaftlich näher untersucht. Die Wirkungen vieler Substanzen sind häufig noch unbekannt. Es ist offenbar nicht so einfach, Xenohormone in den Griff zu bekommen: Erstens können sie ihre gesundheitsschädliche Wirkung auf das Hormonsystem und damit auf sämtliche physiologische Vorgänge im Körper bereits in sehr geringen Konzentrationen entfalten. Hier gilt nämlich das Prinzip „Die Menge macht das Gift“ nicht – schon winzigste Mengen wirken. Zweitens ist der Organismus normalerweise vielen Schadstoffen gleichzeitig ausgesetzt, so dass die Wirkungen eines einzelnen Stoffes schwer nachweisbar sind – eine Lücke, durch die Hersteller schlüpfen können.

Die Taktik der Xenohormone


Körpereigene Hormone werden durch eine Vielzahl von Enzymen in ihre biologisch aktive Form umgewandelt. Sie werden von Enzymen an ihren Wirkort (Zielgewebe, Zellkern, usw.) transportiert bzw. auch wieder abgebaut. Insbesondere Geschlechtshormone (Östrogene, Testosteron, Progesteron) sind für Störungen durch Xenohormone anfällig: Manche Umwelthormone erkennen nämlich diejenige Stelle im Enzym (das sog. aktive Zentrum), an dem das Körperhormon oder sein Vorläufer andockt. Das heißt: Die Moleküle der Xenohormone konkurrieren mit körpereigenen Hormonmolekülen um Bindungsstellen auf Enzymeiweißen. Nehmen die Fremdmoleküle fälschlicherweise den Bindungs-Platz ein, so können sie die körpereigene Hormonproduktion drosseln, ganz ausschalten oder auch den Abbau von Hormonen verlangsamen. Letzteres heißt: Die Hormonkonzentration steigt an bzw. die Hormonaktivität verlängert sich. Im Fall von Östrogen kommt es zur Verweiblichung.

Über Xenohormone – auch Umwelthormone, also hormonaktive Substanzen oder endokrine Disruptoren (hormonelle Störer) genannt – konnte man in den letzten Jahren einiges lesen. Auch das Fernsehen berichtete darüber.

Xenohormone (griech. xénos = Fremder, Gast) stecken in Lebensmittelverpackungen, in Medikamenten, Kosmetika, in etlichen Plastik- und Haushaltsprodukten (Putzmitteln, Klebstoffen, Farben). Sie werden vielfältig als Weichmacher von Kunststoffen (z. B. Phtalate, Bisphenol A), UV-Stabilisatoren und Antioxidantien in Produkten unseres Alltags eingesetzt.

Xenohormone bzw. endokrine Disruptoren (hormonelle Störer) gelangen als mannigfaltige Umweltchemikalien in den Körper von Mensch und Tier. Die Folge: Deren Hormonhaushalt kann – zum Teil massiv – beeinträchtigt (gestört) werden.

Seit bereits 50 Jahren beobachten Forscher Abnormitäten der Geschlechtsorgane verschiedenster Tierarten. Eklatantester Vorfall: Der Chemieunfall 1981 am Lake Apopka in Florida. Diesem wurde – im wahrsten Sinne des Wortes – auf den Grund gegangen. In den 1990er Jahren war die Anzahl der Alligatoren im Apopka-See drastisch zurückgegangen. Viele der Männchen hatten einen verkümmerten Penis und an den Hoden häufig Missbildungen. Sedimentuntersuchungen wiesen Einträge eines chlorhaltigen Insektizids, DDE (Dichlordiphenyldichlorethylen) auf, einem Abbauprodukt von DDT. Bekannt war, dass dieses Abbauprodukt hormonähnlich (östrogenähnlich) wirkt, die Geschlechtsorgane verweiblicht und gleichzeitig die männlichen Hormone (Testosteron) blockiert.

Es existieren viele weitere Beispiele von durch Umwelthormone ausgelöste Miss- und Fehlbildungen bei Tieren: Im Meer lebende Wellhornschnecken sind normalerweise getrenntgeschlechtlich. Aufgrund eines – seit 2003 für solche Zwecke verbotenen – zinnhaltigen Schiffsanstrichs gegen Anhaftung von Algen oder Tieren am Schiffsrumpf ‚mutierten‘ sie zu Zwittern. Fehlbildungen bei Raubvögeln, zu dünne Schalen ihrer Eier und schlechte Vermehrung waren weitere Folgen. In den 1990er Jahren der Diclofenac-Skandal in Indien und Pakistan: Geierbestände schrumpften innerhalb von zehn Jahren um 97 %! Sie hatten sich unter anderem von Rinderkadaver ernährt, gingen dann an Nierenversagen ein. Die Rinder hatten dieses Schmerz- und Entzündungsmittel verabreicht bekommen (siehe auch Diclofenac – tödliche Mahlzeit für Geier!).

Auch Abwässer aus Kläranlagen können Ursache sein für Fehlentwicklungen und Störungen im Hormonsystem von Fischen und Vögeln: Einträge von natürlichen menschlichen Hormonen, von synthetischen Hormonen zur Empfängnisverhütung, Hormonersatz- oder Krebstherapie, von Haushaltschemikalien, Pestiziden usw. können zu Geschlechtsumwandlungen bei Fischen oder vergrößerten Sexualzentren bei Vögeln führen. Letzteres ein Fall in England, bei dem sich Vögel von östrogenhaltigen Schnecken ernährten, die in den Abwässern lebten. Eine weitere erschreckende Tatsache: Die Zahl der Spermien von Männern aus westlichen Ländern wie Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland ist um fast 60 % zurückgegangen! Dies ergab eine zwischen 1973 und 2011 durchgeführte Metastudie. Könnte hier ein Zusammenhang mit Umwelthormonen bestehen? Offenbar ja, wie ein Beispiel aus Mittelamerika zeigt: Arbeiter dortiger Bananenplantagen wurden unfruchtbar, sie bildeten deutlich weniger und schlechter bewegliche Spermien. In den Jahren von 1970 bis 1990 wurde ihnen Dibromchlorphenol, ein Antiwurmgift, verabreicht. Außerdem wurde das östrogenartig wirkende Insektizid Chlordecon (heute verboten) eingesetzt.

Wie kann man Belastungen durch Umwelthormone vermeiden? Das ist offenbar unmöglich, denn sie sind inzwischen überall. Es gibt nur einen sicheren Weg des Schutzes: Die Wirkung eines Stoffes darauf hin zu untersuchen und ihn gegebenenfalls zu verbieten.

Dr. Frauke Garbers, Biologin

01.12.2018

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