Ganzjahresfütterung der Wildvögel

Da sitzen sie aufgeplustert und hungrig. Futter finden sie bei Frost und unter dem Schnee kaum noch. Jeder, der das Elend sieht, hat Mitleid mit ihnen und füttert.

Ein hübsches Vogelhaus, Meisenringe und Meisenknödel in den Zweigen und andere – auch optisch ansprechende – Futterstellen bereichern den Garten und nun erfreuen sich die Menschen am emsigen, lebhaften Treiben der Vögel. Viele verschiedene Arten finden sich ein. Auch solche, die man sonst kaum sieht. Durch ein Fernglas lässt sich das noch genauer beobachten. Da geht das Herz auf. So viel Naturverbundenheit erleben viele Menschen sonst nicht.

Dann kommt der Frühling. Soll man nun weiterfüttern oder aufhören? Finden die Vögel jetzt nicht in der Natur genug Futter?

Bei diesem Thema scheiden sich die Geister, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Ganzjahresfütterung einen wichtigen Beitrag zum Erhalt unserer Vogelvielfalt leisten kann. Prof. Peter Berthold, ehemaliger Leiter der Vogelwarte Radolfzell und Mitglied im Stiftungsrat der Heinz Sielmann Stiftung, erklärt, dass eine ganzjährig betriebene Futterstelle den Vögeln ausschließlich nutzt und niemals schadet – vorausgesetzt, das Futter ist artgerecht. Viele Vogelarten, die ganzjährig gefüttert werden, hätten damit einen besseren Bruterfolg. Sie könnten früher mit der Brut beginnen, legten mehr und höherwertige Eier und entsprechend vitaler seien die Jungen.

Trotzdem gibt es viele Gegenstimmen, die eine ganzjährige Vogelfütterung nicht befürworten, weil das keine natürliche, ausgewogene Nahrung der Vögel sei, allenfalls eine Futterergänzung. Das ist teilweise richtig, denn im Sommer ernähren sich die Vögel hauptsächlich von Insekten – wenn es denn genug davon gibt. Und die Jungen brauchen Insekten für eine gesunde Entwicklung – ja, sie können ohne Insekten gar nicht aufgezogen werden, denn Körner- und Fettfutter können sie nicht gut verdauen.

Beobachtungen haben aber gezeigt, dass Altvögel nur dann vom Menschen gereichtes Futter an die Brut füttern, wenn sie in der Natur kein tierisches Futter finden. Und da liegt das wirklich große Problem. Immer weniger Insekten und deren Larven haben zu einer Verringerung des Angebots und deshalb zu einer Mangelversorgung der Nestjungen geführt. Ideal wäre es, wenn man in solchen Notsituationen Aufzuchtfutter anböte, das mit getrockneten Insekten angereichert ist. Solche Futter gibt es im Zoofachhandel. Auch hin und wieder eine Schüssel mit lebendigen Mehlwürmern oder Grillen – auch die gibt es im Fachhandel – können den Eltern über Notzeiten hinweghelfen.

Intensive Landwirtschaft und fortschreitende Flächenversiegelungen vernichten naturnahe Lebensräume für Vögel. Ackerrandstreifen werden immer schmaler, Felder bis auf den letzten Quadratmeter genutzt. Wildkräuter werden auf fast allen Feldfluren intensiv mit Herbiziden bekämpft und Wiesenpflanzen haben kaum noch Chancen Samen auszubilden, weil viel zu früh und zu häufig gemäht wird. Und die Insekten als Grundnahrungsmittel für Vögel sind durch Pestizideinsatz in ihrem Bestand bedroht.

Für nicht ökologisch gestaltete Parkanlagen gilt dasselbe. Steingärten mit einem Pflanzkübel in der Mitte und ’sauber‘ aufgeräumte Gärten sind keine Heimat für Vögel. Viele Menschen haben mittlerweile eine „Rasenmanie“ entwickelt und mähen ständig alles ab. Damit verschwinden dann auch für Insekten lebenswichtige Gräser und Wiesenblumen. Häufig prägen Thujahecken, Kirschlorbeer, Buchs oder Kiefern das Gartenbild. Darin finden Vögel auch im Sommer keine ausreichende Nahrung.

Stellenweise müssen die Elternvögel zur Brutzeit immer weitere, kräftezehrende Flüge unternehmen, um Nahrung für ihre Brut herbeizuschaffen. Die erschöpften Altvögel benötigen deshalb für sich selbst mehr Nahrung. Und die kann durch Zufüttern an einer ganzjährigen Futterstelle geliefert werden. Es bleiben ihnen dann Zeit und Kraft, in ihrer näheren Umgebung nach Insekten zu suchen. Die Nestlingssterblichkeit ist unter diesen Umständen nachweislich verringert.

In vielen Gärten fehlen den Vögeln wichtige einheimische, beerentragende Sträucher, wie Sanddorn, Eberesche, Schlehe, Heckenrose mit Hagebutten und andere mehr. Bäume, Stauden und Kräuter gehören in einen vogelfreundlichen Garten, um den Tieren sowohl unterschiedliche Nahrungsquellen als auch Rückzugsgebiete und Nistmöglichkeiten in verschiedenen „Etagen“ zu bieten. Staudenstängel und Gräserhorste sollten im Winter auch nicht komplett heruntergeschnitten werden. Die Stängel sind zum einen ein Winterschutz für die Pflanzen selbst, sie bieten aber auch den Vögeln eine zusätzliche Nahrungsquelle, sie sind Witterungsschutz und Winterquartier.

Gegen das ganzjährige Füttern wird auch eingewendet, dass nur die 10 bis 15 häufigsten Vogelarten erreicht würden. Die seltenen und später aus dem Süden zurückkehrenden Zugvögel bekämen dagegen kaum eine Chance zum Brüten, da die Brutplätze von den einheimischen Vögeln schon besetzt seien. Laut Prof. Berthold können hingegen an langjährig betriebenen Ganzjahres-Futterstellen mit artgerechtem Futter bis zu 50 Vogelarten, darunter Laubsänger, Rotschwänze, Grasmücken u. a. gesehen werden.

Ganz Hartgesottene unter den Kritikern der Ganzjahresfütterung plädieren für eine gesunde Auslese im Sinne von Charles Darwin, nach dem nur die Starken überleben. Eine natürliche Selektion wäre demnach der ideale Regulationsmechanismus innerhalb von Vogelpopulationen. Die Ganzjahresfütterung stelle einen massiven Eingriff in die natürlichen Prozesse des Ökosystems dar. Dagegen muss man einwenden, dass es kaum mehr wirklich intakte Ökosysteme gibt, weil wir Menschen überall eingegriffen und vielerorts Lebensräume zerstört und Nahrungsquellen der Vögel vernichtet haben.

Eines allerdings ist sicher richtig: Den Vögeln ist nicht mit einem sterilen, artenarmen Garten gedient, in dem die Futterbehälter prall gefüllt sind. Es muss ein strukturreicher Garten sein, wie er oben beschrieben wurde. Zur Winterfütterung sollte man wissen: bei großer Kälte müssen die Vögel morgens nach dem Erwachen innerhalb von 10 Minuten ihre Energiereserven auffüllen, sonst unterkühlen sie und werden bewegungsunfähig. Deshalb ist die Vogelfütterung im Winter besonders wichtig und notwendig. Wer nicht ganzjährig füttern will, sollte im September mit der Fütterung beginnen, damit die Vögel rechtzeitig die Futterplätze kennenlernen, und man sollte am besten so lange durchfüttern, bis die erste Brut flügge geworden ist.

Ruth Rowohlt

01.12.2019

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