Giftige Gräser - Wissenschaftsgeschichte

"The Tall Fescue Endophyte Story"

... oder wie die Zusammenhänge zwischen Tiererkankungen und Gräsern entdeckt wurden

Rohr-Schwingel (Festuca arundinacea)Die wissenschaftliche Suche nach den Ursachen mysteriöser Erkrankungen von Rindern auf Grasansaaten in den USA hat dort landwirtschaftliche Geschichte geschrieben. Als sogenannte „Tall Fescue Endophyte Story“ wird sie oftmals in der Fachliteratur zitiert. Leider ist diese Geschichte bisher in Europa wenig bekannt. Dabei betrifft sie alle Halter von Weidetieren, denn es geht dabei um Gräser, die aus der „alten Welt“ stammen und bei uns heimisch sind.

Europäischer Wiesenschwingel wurde schon vor 1800 in den USA als Futtergras angebaut. Ende des 19. Jahrhunderts, vor 1880, importierten die USA Wiesenschwingel-Saatgut in großen Mengen aus England. Dieses Saatgut war offensichtlich in geringen Mengen verunreinigt mit dem ebenfalls in England heimischen Rohrschwingel. Wiesen- und Rohrschwingel sind sich äußerlich so ähnlich, dass man früher auch vom kleinen und großen Wiesenschwingel sprach. Wiesenschwingel, das kleinere Gras, war ein wertvolles Futtergras, sowohl zur Beweidung als auch für Heu.

Das große Gras dagegen, der Rohrschwingel, galt als Weideunkraut. „Rohr“ ist hier zu verstehen als „derbes Gras“ im Sinne von Schilfrohr oder Rohrglanzgras. Das sind Gräser, die auch als Reet genutzt werden konnten, das heißt spät geschnitten z. B. zum Decken von Dächern bzw. klein gehäckselt als Einstreu im Stall. Anders als in Europa genoss der Rohrschwingel in den USA einen guten Ruf. Er wurde Ende des 19. Jahrhunderts als ein außerordentlich wertvolles Gras für Beweidung und Heumahd eingestuft. Berichte über Grasversuche in Kentucky und Virginia um 1900 erwähnen das hervorragende Wachstum, die Höhe, die Wettbewerbsfähigkeit (Kampfkraft) und die Dürreresistenz im Vergleich zum Wiesenschwingel. Gleichzeitig, bereits 1898, veröffentlichte ein deutscher Forscher die Entdeckung von endophytischen Pilzen in den Samen von Weidelgräsern. Die Bedeutung dieser Entdeckung wurde aber nicht erkannt und blieb ein weiteres halbes Jahrhundert unbeachtet.

Der europäische Rohrschwingel faßte indessen in einem steilen Bergweideland in Ost-Kentucky Fuß. Bis in die frühen 1940er Jahre wurde trotz weiterer Grasversuche kaum Rohrschwingel angebaut. Danach kamen zwei Kultursorten dieses Grases auf den nordamerikanischen Markt.

Gehen wir fast 100 Jahre zurück.

Die erste, „Alta“, ist eine Sorte, die ab 1918 durch gezielte Selektion aus einem wilden Ökotyp entsteht. Diese Zuchtselektion wird von der Oregon Agricultural Experiment Station und dem U.S. Department of Agriculture betrieben. Selektionskriterien sind: Winterhärte, Ausdauer und die Fähigkeit, während der trockenen Sommer im westlichen Oregon grün zu bleiben. Die Sorte „Alta“ findet schnelle und flächige Verbreitung in der Region des Pazifischen Nordwestens und in Tallagen der Bergregionen der westlichen USA.

Bei der zweiten Sorte „Kentucky 31“ handelt es sich um den eingeschleppten Rohrschwingel, der im steilen Bergweideland von Ost-Kentucky heimisch werden konnte. Dieses Weideland fällt 1931 Prof. Fergus von der Universität Kentucky auf. Er ist von dem Gras beeindruckt, und zwar, weil es im Winter grün bleibt, während die dort heimischen Gräser im Winter braun und strohig verdorrt sind. Prof. Fergus kultiviert das neu eingebürgerte Gras (Neophyt: neu eingebürgerte Pflanze), testet es auf seine Eigenschaften und trägt es im Jahr 1943 als Zuchtsorte „Kentucky 31“ ein.

Als Eigenschaften des Grases werden hervorgehoben: Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit an eine Vielzahl unterschiedlicher Böden und die Möglichkeit, fast das ganze Jahr zu beweiden. Wie ein Lauffeuer spricht sich dieses „Wundergras“ herum: Endlich steht den Bauern dieser zuvor im Winter öden Landschaft ein grünes Futtergras zur Verfügung! In den 1940ern und 1950ern verändert sein großflächiger Anbau die gesamte Landschaft der südlichen USA. Die Bauern reißen sich quasi gegenseitig das Saatgut aus den Händen.

Gleichzeitig beobachten Viehbauern seltsame gesundheitliche Probleme bei ihrem Vieh, für die sie keine Erklärung haben und die neu sind. Es steht ein Verdacht im Raum, dass diese Erkrankungen irgendetwas mit dem Wundergras zu tun haben könnten. Das berühmt-berüchtigte Gras „Kentucky 31“ gerät langsam in Verruf.

Schwingelvergiftung

Drei verschiedene Syndrome werden als Formen der Schwingelvergiftung (Tall Fescue Toxicosis) beschrieben: Im oberen Süden treten erhöhte Atemraten und absterbendes Gewebe (Brand, Gangrän) auf, das oft zum Verlust von Klauen, Schwänzen und Ohren führt. Dieses Syndrom wird als Schwingelfuß (Fescue Foot) bezeichnet und zuerst 1949 in Neuseeland beschrieben. Es tritt vermehrt im Winter auf.

Das nächste Syndrom äußert sich durch stark verhärtete Fettgewebe im Bereich des Verdauungstraktes. Verdauung und Geburten von Kälbern können durch diese Verhärtungen eingeschränkt oder sogar unmöglich gemacht werden. Dieses Syndrom, „(Bovine) Fat Necrosis“ genannt, tritt allgemein nach starker Stickstoffdüngung auf Rohrschwingel-Weideland auf.

Das dritte Syndrom äußert sich durch die Unfähigkeit, das Winterfell im Frühjahr zu wechseln, in rauem Fell, erhöhter Atemfrequenz, Intoleranz gegenüber hohen Temperaturen mit der Gefahr einer Überhitzung („Fieber“), vermehrtes Speicheln, schlechte Gewichtszunahme, reduzierte Milchleistung, verringerte Futteraufnahme, Nervosität und geringe Fruchtbarkeit. Dieses Syndrom tritt vorwiegend bei warmem Wetter auf und wird als Sommer-Syndrom (Summer Syndrome) bezeichnet.

Die wirtschaftlichen Folgen dieser Erkrankungen und Tierverluste sind enorm.

Pleiten, Pech und menschliche Fehleinschätzungen verhindern leider eine schnelle Klärung der Zusammenhänge. Hoher persönlicher Einsatz, teils entgegen den Anweisungen von Vorgesetzten, die die Sache der Mühe nicht wert finden, bringt die Zusammenhänge schließlich 1977 ans Licht. Abgesehen davon, dass viele Wissenschaftler nach jahrelanger intensiver Forschung in anderer Richtungen die scheinbar allzu einfache Lösung anfangs nicht akzeptieren mochten, sieht Prof. Carl Hoveland von der Universität Georgia in seiner Veröffentlichung aus dem Jahr 2005 noch einen weiteren Grund für die zähe Aufklärung:

»J.K. Underwood und Mitarbeiter aus Tennessee bemerkten mit großem Weitblick, dass die Symptome der Tiere denen einer Mutterkornvergiftung glichen, aber sie verwarfen diese Möglichkeit, weil sie keine Fruchtkörper des Mutterkornpilzes (Claviceps purpurea) in Rohrschwingelsamen fanden (unveröffentlicht, 1954). Überraschenderweise wurde dieser Gedanke nicht weiterverfolgt, möglicherweise, weil derart unvorteilhafte Neuigkeiten den Verkauf von Rohrschwingelsamen einiger Produzenten behindert hätten (persönliche Mitteilung, H.A . Fribourg, ihm erzählt vom verstorbenen J.B. McLaren). Statt dessen wurde die Forschung in den 1950ern bis 1970ern auf externe Pilze, pflanzliche Alkaloide, Gifte in den Gärkammern und Anionen konzentriert (Bush et al. 1979).«

Über eine Reihe von Jahren war der Toxikologe Dr. J.D. Robbins vom USDA Russell Research Centre in Athens, Georgia, zu der Überzeugung gelangt, dass in die Schwingelvergiftung ein Pilz verstrickt sei. Die Symptome waren der einer Mutterkornvergiftung einfach zu ähnlich. 1973 gelang es Robbins und seinen beiden Assistenten C.W. Bacon und J.K. Porter, drei Pilze der Gattung Balansia aus einem giftigen Rohrschwingel-Weideland in Georgia zu isolieren. Dabei handelte es sich um endophytische Pilze, also Pilze, die innerhalb ihres Wirtsgrases leben. Die Pilze zeigten keine schädigende Wirkung auf das Wirtsgras.

In Indien war diese Pilzgattung 1934 als Ursache für Vergiftungen von Rindern und Ziegen auf Gras beschrieben worden. Versuche mit den in Georgia isolierten Pilzen zeigten, dass diese Pilze viehgiftig waren und Mutterkorngifte (Ergotalkaloide) herstellen konnten. Daraus erwuchs die Hypothese, dass ein Pilz für die Viehvergiftungen auf Rohrschwingel verantwortlich sein könnte. Das wiederum beflügelte die Forschung.

Später stießen diese Forscher darauf, dass bereits 1941 eine Veröffentlichung von Neil in Neuseeland erschienen war, der einen pilzlichen Endophyten in Rohrschwingel und Deutschem Weidelgras gefunden hatte und vermutete, dass diese Pilze Gifte produzieren könnten. Die erste Veröffentlichung eines Grasendophyten überhaupt stammt, wie oben erwähnt, aus dem Jahr 1898 von einem Deutschen namens Vogl. Die Abhängigkeit des Endophyten von der Samenverbreitung wurde 1933 von Sampson in Wales aufgezeigt. Es lagen also wichtige Erkenntnisse längst vor, es gab aber niemanden, der sie richtig hätte interpretieren und zusammenbringen können. Die Zeit war einfach noch nicht reif.

Humorvoll beschreibt Prof. Hoveland eine Episode der Tall Fescue Endophyte Story, die die U.S.-amerikanische Forschungsbürokratie und die Hürden für innovative Forschung beleuchtet. Am 13. Juni 1972 besuchte Dr. Robbins die Farm von A.E. Hays nahe Mansfield in Georgia. Ihm fiel auf, dass auf einem Rohrschwingel- Weideland Anzeichen von Schwingelvergiftung bei Mastrindern auftraten, dagegen keine auf drei angrenzenden Weideflächen.

„Er berichtete diese interessante Entdeckung seinem Laborchef im Russell Research Center und bat um die Genehmigung, noch einmal dorthin zurückkehren und Proben dieser Weideländer für Pilzendophyten nehmen zu dürfen. Aber die Dienstreise wurde abgelehnt und ihm aufgetragen „sich abzuregen“, weil dies offensichtlich nicht als eine Beschäftigung erwogen wurde, die der Mühe wert sei (Korrespondenz von J.A. Robertson an D. Burdick, in Kopie an J.D. Robbins).“

(Zitat aus „Origin and History“ von Prof. Hoveland

Am nächsten Tag verschwand er ohne offizielle Dienstreiseerlaubnis in seinem privaten Auto. Er fuhr zur Farm von Hays und nahm dort die Grasproben von den Viehweiden. Zurück im Russell Center untersuchte der Pilzforscher C.W. Bacon die Grasproben unter dem Mikroskop. Die Gräser auf den Viehweiden, auf denen die Rinder Krankheitssymptome gezeigt hatten, waren zu 100% mit den endophytischen Pilzsymbionten infiziert. Die Gräser auf den Rinderweiden mit den gesunden Rindern zeigten dagegen einen deutlich geringeren Infektionsgrad mit Endophyten. Die Veröffentlichung von Bacon und seinen Kollegen aus dem Jahr 1977 war bahnbrechend. Mit dieser Arbeit konnte erstmals fundiert begründet werden, dass tatsächlich Endophyten das ursächliche Problem der Vieherkrankungen sind. Der Weg für zielführende Weideversuche mit unterschiedlich stark infizierten Futtergrundlagen war frei.

Die Geister, die ich rief ...

Seit den 1990ern kommen endlich die ersten endophytenfreien Zuchtsorten des Rohrschwingels, aber auch des Deutschen Weidelgrases auf den Markt. Nach anfänglich überschwänglicher Begeisterung setzt bald Ernüchterung ein: Das Saatgut und die Neuanlage des Grünlandes sind teuer. Die endophytenfreien Sorten eignen sich zwar hervorragend als gesundes Viehfutter – jedoch sind sie kaum resistent gegen Dürre und anderen Streß. Mit anderen Worten: Es besteht durchaus die Gefahr, dass der Landwirt in ungünstigen Situationen seine Futtergrundlage verliert, weil die Gräser schlicht sterben. Zudem ist das Vieh so begeistert am Fressen, dass es diese gute und schmackhafte Futtergrundlage leicht gnadenlos überweidet. Schließlich ist auch bei größter hygienischer Vorsicht das neu und teuer angelegte, endophytenfreie Grasland früher oder später doch wieder mit Endophyten infiziert und die Giftgehalte steigen mit den Jahren der Beweidung an.

Zu den notwendigen hygienischen Vorsichtsmaßnahmen zählen gründlichstes Abtöten infizierten Graslandes vor der Neuanlage, keine Heu- und Silagefütterung auf dem sauberen Grasland (infizierte Samen aus dem Heu!), Umtrieb der Tiere auf sauberes Weideland erst, wenn der gesamte Kot mit möglicherweise keimfähigen, infizierten Samen aus anderen Flächen oder Rauhfutter das Tier passiert hat. Damit ist diese Futtergrundlage teuer, aufwändig und unsicher.

In den 2000ern endlich die ersten Sorten mit sogenannten „freundlichen“ Endophyten, also patentierten Endophyten, die zwar die erwünschten Resistenzen der Gräser sichern, aber keine schweren Viehvergiftungen verursachen. Doch auch hier stellt sich Ernüchterung ein: Erneut hohe Kosten, schnelle Verunreinigung mit giftigen Endophyten. Zudem treten erstmals beschrieben tödliche Vergiftungen bei Pferden auf. Die Tiere starben an Giften, auf die die patentierten Endophyten gezielt selektiert wurden, weil man diese Gifte als ungefährlich für Säugetiere betrachtete.

Dr. Renate Vanselow, Diplom-Biologin


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