Der lange Weg vom Wolf zum Hund

Der älteste Hund, von dem wir sicher wissen, dass er Hund war und Partner der Menschen, hat vor 36 Tausend Jahren gelebt. Seinen Schädel fand man in der Höhle von Goyet in Belgien. Dass es sich um einen Hund und nicht um einen Wolf handelt, konnte man an der kürzeren Schnauze im Vergleich zum Wolfsschädel erkennen. Ein neuerer Schädelfund aus einer Höhle des Altaigebirges in Sibirien bestätigt das Alter. Dieser Hund hat vor etwa 33 Tausend Jahren gelebt.

Aber die Hundwerdung ist vermutlich viel älter, sie begann eher 100 Tausend oder 120 Tausend Jahre vor unserer Zeit. Dafür sprechen Untersuchungen an der mitochondrialen DNS, neuerdings auch am Y-Chromosom, sowohl von Hunden als auch Menschen, die darauf hinweisen, dass dieser Prozess mindestens 100 Tausend Jahre zurückliegen muss und nicht nur 30 Tausend Jahre, wie man lange annahm.

Zu der Zeit gelangten die ersten unserer Art Homo sapiens von Afrika über den Sinai und im Süden über die Meerenge, den Bab al-Mandab, nach Arabien.

Vor etwa 120 Tausend Jahren begann ein Interglazial, eine Zwischeneiszeit. Es wurde deutlich wärmer und deshalb feuchter. Arabien wurde zu einer grünen Halbinsel, dicht bewachsen mit Gräsern, Bäumen und Sträuchern, den heutigen Steppen Afrikas ähnlich und mit ebensovielen Tieren. Ein Naturparadies für Menschen und auch für Wölfe. Hier nun fand die erste Begegnung statt, denn in Afrika gab es keine Wölfe. Es waren kleine Wölfe, nicht vergleichbar mit den mächtigen Timberwölfen, wie in Kanada und Alaska.

Kam es zu einer Liebe auf den ersten Blick? Wohl eher nicht. Die frühen Begegnungen waren sicher nicht problemlos, denn beide, Menschen und Wölfe, haben ähnliche Interessen, wenn es um die Nahrung geht. Und beide können sehr aggressiv sein.

Aber wie kam es dann zur Verbindung zwischen Wolf und Hund, zur Domestizierung? Einen Wolf zu domestizieren wurde bis in die Gegenwart oft versucht, aber es ist noch niemandem gelungen. Kein Wolf wurde zum Hund. Wölfe lernen nicht, die Signale der Menschen, Mimik, Gestik, aber auch verbale Befehle sicher zu deuten, sie lassen sich kaum dressieren. Zeigen Sie mit dem Finger auf einen Gegenstand, dann schaut der Hund genau dahin. Der Wolf versteht den Hinweis nicht.

Wölfe bleiben Wildtiere. Warum hätte das damals anders gewesen sein sollen? Und welches Interesse hätten die Menschen daran haben können, sich Wölfe als Partner zu suchen? Was hätten sie mit ihnen anfangen sollen? Sie werden sie verscheucht oder gejagt haben, vor allem wegen des Pelzes. Es kann nicht der kleine verwaiste Wolfswelpe gewesen sein, den der Jäger von der Wolfsjagd zur Freude seiner Kinder mitgebracht hat, aus dem dann ein Hund wurde. Der Welpe wäre ohne Muttermilch schnell verhungert. Nein, so kann es nicht gewesen sein. Viel eher hätte man den Welpen als zarten Braten verspeist und für das weiche Fell eine Verwendung gefunden.

Die Annäherung muss ganz anders abgelaufen sein, vermutlich ganz langsam in winzigen Schritten über hunderte, ja tausende Jahre und entsprechend viele Generationen. Und nicht die Menschen haben sich den Wölfen, sondern die Wölfe den Menschen angenähert.
Es muss von Seiten der Wölfe ein starkes Interesse bestanden haben, die Angst vor den Menschen zu überwinden, und genauso auf Seiten der Menschen, die Anwesenheit der Wölfe hinzunehmen.

Ein Weg der Annäherung wird sich wohl über die Reste von großen Beutetieren ergeben haben. Weder Wölfe noch Menschen konnten ein großes Beutetier, das sie erlegt hatten, einen Büffel, ein Zebra, eine Giraffe, gar einen Elefanten, sofort und vollständig verwerten. Da blieb immer einiges für die anderen übrig.

Da sieht man geradezu die Wölfe in einiger Entfernung darauf lauern, dass die Menschen, beladen mit Fleisch, ihrer Höhle oder ihren Zelten zustreben. Was für ein Festmahl dann für das Rudel. Und umgekehrt haben die Menschen vermutlich die Wölfe von ihrer Beute vertrieben.

Ein Lernprozess der Gewöhnung, bei dem beide Seiten mit der Zeit die natürliche Scheu voreinander mehr und mehr verloren haben und der sich dann auch genetisch und epigenetisch niedergeschlagen haben muss, denn so erleben wir es ja an unseren Hunden.

Auch ein aus unserer heutigen Sicht wenig erfreulicher Aspekt wird eine Rolle gespielt haben. Unsere Hunde fressen gerne Menschenkot. Das wohl, weil viele halbverdaute Stoffe, auch Enzyme und lebenswichtige Vitamine darin enthalten sind. Nicht anders werden es auch die Wölfe getan haben.

Eine Horde Menschen, das werden 10, 20, manchmal auch mehr Menschen gewesen sein, haben alle täglich ihren Kot in einiger Entfernung vom Lager hinterlassen, vermutlich vergruben sie ihn. Für die Wölfe leichte "Beute".

Das alles erklärt noch nicht, warum Wölfe und Menschen zu Partnern und Freunden werden konnten. Es muss weitere Gemeinsamkeiten gegeben haben; und die gab es wohl auch.

Beide, Menschen und Wölfe, waren ständig von denselben Feinden bedroht, vor allem Großkatzen, und sie waren ständig auf der Wanderschaft und auf der Suche nach Beute. Je näher sich Wölfe bei den Menschen aufhielten und das ständig, umso mehr werden sie zu Beschützern der Menschenhorden geworden sein. Mit ihren feinen Sinnen erkannten sie die Gefahren, bevor ein Mensch sie auch nur geahnt haben mag, und sie haben die Menschen gewarnt. Krähen z. B. verhalten sich ähnlich und warnen kleinere Vögel, wenn sie einen Fuchs oder eine Katze gesehen haben. Die Menschen werden es den Wölfen gedankt haben durch Duldung, vielleicht auch durch Belohnung mit Futter.

Man kann vermuten, dass sie in einer Welt der Mythen auch zu Totemtieren geworden sind, ohne deren Nähe man sich verloren fühlte, die niemand mehr vertreiben oder gar töten durfte bis hin zur totalen Identifikation, bei der sich Menschen als vom Geist der Wölfe erfüllt fühlten.

So wird es gut vorstellbar, dass ein Rudel Wölfe über viele Generationen eine Horde Menschen auf Schritt und Tritt begleitet hat mit einem gewissen Abstand. Man kannte sich gegenseitig genau und verstand sich.

Die Voraussetzungen dafür waren gut, denn Menschen und Wölfe haben eine ähnliche Familienstruktur mit gleicher Hierarchie und Pflege des Nachwuchses, und ihre Beutetiere waren dieselben. So kann man sich gut eine gemeinsame Jagd mit verteilten Rollen vorstellen und dem Teilen der Beute. Das ist mit Jagdhunden heute immer noch so.

Tausend Jahr sind für uns Menschen eine lange Zeit, die wir nicht mehr überblicken können. Wir rechnen in Jahren und Jahrzehnten, und schon bei den Großeltern hört das Verständnis für Geschichte bei den meisten auf. 50 Tausend Jahre und mehr, in denen die Wölfe zu Hunden wurden, können wir nur verstehen, wenn wir in Stufen der Entwicklung, ähnlich der konstruktivistischen Evolutionstheorie, die mit Sprüngen argumentiert, hier mit dem Ergebnis Hund. So aber ist Natur nicht. Der Annäherungs- und Lernprozess, wie man sich gegenseitig verstehen konnte und sich einzuschätzen hatte, gewissermaßen den anderen in seinem Verhalten lesen zu lernen, war ein dynamischer, wie alles Leben.

Irgendwann auf diesem langen Wege wird es zu körperlicher Annäherungen gekommen sein. Das mag ein verletzter Wolf gewesen sein, der gefüttert und gesund gepflegt wurde, vielleicht auch ein verwundeter Mensch, dem ein Wolf die Wunden geleckt hat, oder eine halbzahme Wölfin, die ihre Jungen den Menschen vorgestellt hat.

Was sich hier über zehntausende Jahre abgespielt hat ist der Prozess der Selbstdomestikation der Wölfe, der durch das Entgegenkommen und die Unterstützung durch die Menschen möglich wurde. Vorteile davon mussten beide haben, eine Symbiose also.

Nach hunderttausend Jahren Trennung gehören Wolf und Hund zwar immer noch zur selben Spezies, und sie können sich untereinander kreuzen und bringen fruchtbare Junge zur Welt, aber viele schlafende Gene mussten aktiviert worden sein, und es hat Mutationen und epigenetische Veränderungen gegeben, so dass besondere Merkmale des Verhaltens und des Äußeren auftreten konnten, ein Prozess der Rassenbildung.

Nachdem sich die Menschen über den gesamten eurasischen Kontinent ausgebreitet hatten, werden sich solche Entwicklungen auch an anderen Stellen abgespielt haben. Die Bedingungen waren überall dieselben wie in Arabien, und Zeit gab es genug.

So oder so ähnlich könnte es gewesen sein. Wir können es nur vermuten, aber die hier vorgestellte Theorie hat vieles für sich, denn sie argumentiert nicht mit Sprüngen und mit Wundern.

Die Annäherung der Wölfe an die Menschen und ihre Entwicklung zu Hunden ist eine wundervolle Geschichte, voller Geheimnisse und noch längst nicht zuende erzählt. Das Ergebnis aber lebt nun heute mit uns eng zusammen, mehrere hundert Rassen, denen man den Wolf oft nicht mehr ansehen kann. Und doch ist jeder Hund immer noch Wolf, genauso aber auch zu einem Teil ein verkappter Mensch.

Kein anderes Tier hat es geschafft, sich so anzupassen und uns Menschen so gut zu verstehen. Er erkennt unsere Stimmungen, unsere Wünsche, reagiert auf Mimik, Gestik und Worte, keineswegs nur auf harsche Befehle oder Strafen. Er kann sich mit uns freuen, und er leidet ähnlich wie wir und mit uns. Er ist Seelenverwandter. Das sollten wir nie vergessen, und wir sollten dankbar sein für seine Hilfen. Ohne Hunde hätte der Mensch niemals seine Zivilisationsstufen durchschreiten können. Ohne seine Hilfen wären wir Jäger und Sammler geblieben. Dort, als wir Jäger waren, hat er uns getroffen, hat sich uns angeboten, sich selbst domestiziert und uns den Weg in die Zivilisation ermöglicht. Es ist, als wären sie uns nach einem göttlichen Plan zur Seite gestellt worden, damit wir auch in dunkelsten Stunden nicht allein sind, einen Partner haben, der immer freundlich ist und treu, auch dann, wenn Menschen uns längst verlassen und vergessen haben.

Klaus-Rainer Töllner, Biologe

31.01.2018

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