Ein blindes Pferd

© Rabea MüllerAls ich vor knapp drei Jahren mein erstes Pferd kaufte, hatte ich ganz andere Vorstellungen von einem echten Traumpferd. Es zog eine 12-jährige Appaloosastute mit dem Namen Alizee ein, die nicht nur tragend war, sondern auch entzündete Augen hatte. Sie war an der Equinen rezidivierenden Uveitis, kurz ERU, erkrankt. Ein Auge war bläulich und stark geschwollen, das andere eingefallen und grünlich-rot.

© Rabea MüllerAnfangs habe ich diese Erkrankung sehr unterschätzt. Ich dachte, sie würde noch etwas erkennen können, doch mit dem Umzug und dem Umgebungswechsel wurde mir eins sehr deutlich bewusst – sie war komplett blind und konnte nichts mehr sehen.

Ab da an begann ein kleiner Albtraum: sie kam zunächst nicht im Offenstall zurecht und hatte immer öfter Schrammen am Körper. Die Augen mussten durch die Entzündung sehr schmerzen, tränten wochenlang und sorgten für kahle Stellen am Kopf, weil die Tränenflüssigkeit die Haut wund rieb und das Fell verklebte.

Spaziergänge, Reiten, Longieren – alles musste neu erlernt werden. Mit der Blindheit musste meine Stute auch mit neuen Problemen kämpfen – aus einer selbstbewussten Alizee war ein nervöses und schreckhaftes blindes Pferd geworden. Sie hatte mit Schmerzen, Schwindel und Orientierungsschwierigkeiten zu kämpfen und auch etliche Blockaden im kompletten Körper.

Am Anfang haben mir viele zum Einschläfern geraten. Ich habe diese Bemerkungen ignoriert, sah aber selbst die immer höheren Tierarztrechnungen, den Zustand der Augen und die Belastung der Trächtigkeit. Teilweise war ich so frustriert, dass ich einfach nicht mehr weiter machen wollte. War es denn das Richtige? Oder war dieses blinde Leben für Alizee gar nicht lebenswert?

Aber bei jedem Zweifel, der in mir aufkeimte, zeigte Alizee ihren Lebenswillen. Also begannen wir zu kämpfen – gegen die Krankheit, gegen die Blindheit und diese Ohnmacht, die uns fast die Freude raubte.

Ich verbrachte immer mehr Zeit bei ihr im Offenstall, zeigte ihr die Zäune, den Unterstand, die Fressplätze und das Wasser. Ich begann sie regelmäßig zu massieren um Verspannungen zu lösen und machte kleine Übungen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Wir gingen regelmäßig spazieren und ich versuchte, uns ein neues Wörterbuch zu schaffen, mit dem wir auch blind kommunizieren konnten. Bis heute kann sie über dreißig Kommandos unterscheiden, vielleicht sogar mehr.

Der größte Erfolg kam nicht schleichend, sondern sehr abrupt. Ich hatte drei Monate versucht, das Pfeifen als Hilfe zu etablieren. Alizee sollte daraufhin zu mir kommen und durch den Ton eine Orientierungshilfe haben. Drei Monate hat sie es ignoriert und ist in jede erdenkliche Richtung gelaufen, ohne mir zu folgen. Und plötzlich kam sie mir einfach hinterher und stellte diese Hilfe nie wieder in Frage.

Vielleicht war es auch für sie ein schwieriger Moment. Nach der längeren Zeit, in der sie allein mit dem Handicap klar kommen musste, war es sicher ein großer Schritt, diese Verantwortung abzugeben und nicht nur allein auf sich selbst aufzupassen. Auch ich war anfangs mit dieser riesigen Verantwortung überfordert – sobald wir den Stall verließen, musste ich die Funktion der Augen ersetzen. Diese Last hat mich fast erdrückt.

© Rabea MüllerDoch ab diesem Zeitpunkt passten wir aufeinander auf. In den folgenden Jahren sind wir mehrmals umgezogen, das Fohlen kam gesund zur Welt und wurde ebenfalls von mir gekauft, um als Blindenführer an der Seite von Alizee zu bleiben. Ihre Orientierung wurde besser, sie nutze die anderen Sinne stärker als sehende Pferde und konnte Zäune und Hindernisse blind bemerken und umgehen.

2016 traf ich die Entscheidung für eine beidseitige Augenentfernung. Trotz vieler verschiedener Behandlungen traten die Schübe der Entzündungen immer öfter und schmerzhafter auf. Es gab keine Sehkraft, die ich noch hätte retten können und so stellte ich mir die Frage: Muss sie die Augen für den letzten Rest Hoffnung behalten oder kann sie nicht endlich ein schmerzfreies Leben haben?

© Rabea MüllerDie Umstellung nach den zwei Operationen, eine ambulant im Stall und eine in der Klinik, erfolgte schneller als gedacht. Die Hufe und die Mähne wuchsen plötzlich wieder, sie baute schneller Muskeln auf und hatte keine Rückschläge in der Orientierung mehr. An die leeren Augenhöhlen gewöhnten sich alle, da sie durch die Schmerzfreiheit wieder eine sehr eindrucksvolle Ausstrahlung hatte.

Sie hat sich in dieser Zeit zu einem absoluten Traumpferd entwickelt – sie ist voll reitbar, geht ins Gelände, ist ein Traum in der Freiarbeit und kann sogar über kleine Hindernisse springen. Sie steht in einer Herde im Offenstall und findet sich problemlos auf neuen Weiden zurecht, allein und in der Herde, wobei die Herde sie leitet und unterstützt.

© Rabea MüllerFür mich steht ganz klar fest: Auch ein blindes Pferd kann ein Leben voller Qualität haben und wieder unabhängig sein. Natürlich hilft ihr die Unterstützung der Menschen und Pferde, aber schlussendlich ist sie nun geprägt durch eine faszinierende und einzigartige Orientierung, die das Handicap vollkommen vergessen lässt.

Was bleibt, ist ein enormer Respekt vor diesem wundervollen Pferd. Ich hoffe, sie wird mein Leben noch viele Jahre bereichern!

Rabea Müller

Facebook: Artemis alazán – project blind

30.09.2017

Bildergalerie

Zurück zur Übersicht