Faszination Faszien

Bewegung und Atmung im Kontext des körperweiten Fasziennetzwerk des Pferdes

Die recht schlicht gehaltene Überschrift dieses Artikels lässt zunächst keinen großen Aha-Effekt vermuten... Ist doch jedem klar, dass Bewegung und Atmung zusammengehören. Intensive Forschungsaktivitäten haben in den letzten Jahren zahlreiche neue Erkenntnisse zum Thema Faszien hervorgebracht.
Entscheidend geprägt wurde das Thema myofaszialer Ketten und anatomischer Zuglinien durch den amerikanischen Therapeuten, Forscher und Dozenten Thomas W. Myers (1). Sein Buch Anatomy Trains erschien erstmalig 2001 und findet in Manueller Therapie, Sportwissenschaft und Medizin große Anerkennung. Nahezu alle aktuellen Therapieansätze und zahlreiche wissenschaftliche Studien, die auf das systemische Zusammenspiel aller Strukturen im Körper ausgelegt sind, beziehen sich in ihrer Erklärung auf Thomas Myers.

Mit dem Begriff myofasziale Ketten sind Muskelgruppen gemeint, die erst durch ihre nachweislich ununterbrochen und fortlaufenden faszialen Verbindungen, Umhüllungen und Durchwebungen zur Kette werden und durch Überschneidungen auch untereinander strukturell miteinander verbunden sind. Man spricht deshalb von der myofaszialen Einheit. Die Vorsilbe myo bedeutet muskulär und faszial lässt sich mit bindegewebig übersetzen.

Myofasziale Ketten sind seit neuestem auch im Pferdekörper nachgewiesen (2), wobei nur unwesentliche Unterschiede zu den myofaszialen Ketten im menschlichen Körper bestehen. Einigkeit herrscht darüber, dass der Pferdekörper ein ganzheitliches System darstellt. Aber was bedeutet das nun konkret? Wie geht man mit dem Pferdepatienten als Therapeut oder Trainer um, wenn man dies berücksichtigt? Was bedeutet diese neue Sicht auf den Körper für den Pferdebesitzer?

Dass „alles irgendwie zusammen hängt“ erscheint logisch. Die Erkenntnisse der myofaszialen Ketten ermöglichen nun handfestere und nachvollziehbarere Erklärungen für muskuläre Zusammenhänge, Bewegungseinschränkungen, Krankheiten und Therapiemethoden.

In diesem Beitrag lege ich den Fokus auf die strukturellen und funktionellen Zusammenhänge zwischen Bewegungsapparat und Atemmechanismus im Kontext des Muskel-Faszien-Systems des Pferdes. Diese wortwörtlichen Zusammenhänge werden deutlich, wenn man den Körper als Gesamtsystem betrachtet, in das auch sämtliche Organe eingebunden sind.

Häufige Befunde

Als Pferdeosteopathin werde ich in der Regel dann gerufen, wenn es Auffälligkeiten in der Bewegung des Pferdes gibt. Häufig beschreiben die Pferdebesitzer, dass ihr Pferd bei der Bodenarbeit oder beim Reiten steife und unelastische Bewegungen macht, sich nicht biegen mag, häufig stolpert und wenig Lauflust hat. In der Befragung kommen dann oftmals noch Probleme mit Husten und Kotwasser hinzu. Auch von Sattelpassformproblemen, Gurtzwang und Veränderungen der Hufbalance ist die Rede. In der Regel sind die Hustenprobleme zu diesem Zeitpunkt schon tierärztlich abgeklärt, nicht selten ohne konkrete Diagnose.

Die Befragung durch den Therapeuten ist enorm wichtig, da vielen Pferdebesitzern verständlicherweise nicht klar ist, wie wichtig diese Informationen sind, obwohl sie auf den ersten Blick gar nichts mit dem Bewegungsapparat zu tun zu haben scheinen.

In der Befunderhebung fällt mir häufig als erstes eine unharmonische Atmung durch aktiv an der Ausatmung beteiligten schrägen Bauchmuskeln auf. Häufig sogar bei Pferde, die kein Husten haben. Außerdem stehen vor allem die letzten Rippenpaare in Einatmungsstellung, was den hinteren Rumpf unharmonisch „aufgepumpt“ wirken lässt.
Die Beckenstellung ist nicht neutral, sondern meistens steil gestellt. Die Vordergliedmaßen tendieren zur Rückständigkeit.

In der Bewegungsanalyse fällt ein wenig kraftvoller Schritt mit kurzen Schritten und instabilem Becken auf. Trab und Galopp sind ebenfalls kurzschrittig und eher steif.

Das Abtasten ergibt dann Verspannungen und Berührungsempfindlichkeiten in der Rippenzwischenraummuskulatur, der schrägen Bauchmuskulatur, der hinteren Rückenmuskulatur, sowie der Brustmuskulatur. Das Herausführen der Hintergliedmaßen ist oftmals nicht ohne krampfiges Hochziehen und Muskelzittern möglich und verursacht dem Pferd offensichtlich Schmerzen. In diesem Zuge wird dann oftmals noch ergänzt, dass das Pferd bei der Hufbearbeitung unruhig und wenig kooperativ ist.

Im Bestreben, die Befunde konkreten Ursachen zuzuordnen, sortiere ich sozusagen vom Groben zum Feinen. Dies bedeutet, dass die oben beschriebenen Ergebnisse des Sichtbefunds, der Tastuntersuchung und der Bewegungsanalyse zunächst die Erkenntnis bringen, dass Dysbalancen im Zusammenspiel aus Rumpfstabilität und Gliedmaßenbewegungen entstanden sind, unter anderem, weil Vor- und Hinterhand nicht ihren jeweiligen naturgemäßen Aufgaben nachkommen können. Konkret ist es oftmals so, dass die Hintergliedmaßen keinen Schub entwickeln und die Vordergliedmaßen vermehrt zum Vorziehen des Rumpfes eingesetzt werden. Die Folgen sind Dauerkontraktionen, muskuläre Fehlentwicklungen und eine unnatürliche Beckenstellung.

Dieses kompensatorische Bewegungsmuster in Kombination mit unharmonischem Atemrhythmus stelle ich bei acht von zehn untersuchten Pferden in einem Beobachtungszeitraum von eineinhalb Jahren fest. Es scheint ein Henne-oder-Ei-Thema zu sein, denn häufig ist nicht ganz klar auszumachen, ob zuerst die flache, auspressende Atmung aufgetreten ist und dann die Bewegungsauffälligkeiten, oder anders herum. Ich glaube, dass dies unter anderem daran liegt, dass Untersuchungen und Behandlungen der Atmungsprobleme häufig völlig unabhängig von den Bewegungsproblemen betrachtet und therapiert werden. Zwischen Organproblem und Bewegungsproblem gibt es oftmals kein interdisziplinäres, vernetztes Denken und Handeln. Es ist selbstverständlich, dass Atmungsprobleme als Erstes und schnellstmöglich tierärztlich abgeklärt werden müssen, ebenso Lahmheiten. Aber spätestens in den erschreckend zahlreich auftretenden Fällen, in denen sowohl bei den Atmungsproblematiken, als auch bei den Bewegungseinschränkungen Therapieresistenzen auftreten und Chronifizierung droht, bedarf es der engen Zusammenarbeit von Tierarzt und Therapeut. Ideal im Sinne der Tiergesundheit ist es, von Anfang an Atmung und Bewegung im Kontext des körperweiten Fasziennetzwerks zu betrachten und interdisziplinär zu therapieren.

Bestehen bereits chronische Atemprobleme, sollte eine regelmäßige physiotherapeutische Untersuchung und Behandlung des muskulären Atmungskomplexes selbstverständlich sein. In meiner Praxis betreue ich zahlreiche Pferde mit chronischem Husten physio- und trainingstherapeutisch und durch die zusätzliche Anleitung des Pferdebesitzers in verschiedenen Behandlungsmethoden kann dann eine nachhaltige Verbesserung der Atem- und Lebensqualität erreicht werden.

Faszien und myofasziales System

Dass der Atmungsmechanismus strukturell direkt mit dem Bewegungsapparat zusammenhängt, wird bei der Betrachtung der Verläufe der myofaszialen Ketten deutlich, die als Muskel-Faszien-Einheiten in Zugbahnen mit verschiedenen Verläufen den ganzen Körper umspannen und durchweben. Im Folgenden ermöglicht eine Zusammenfassung Einblicke in dieses komplexe Thema:

Auf dem ersten internationalen Faszienkongress 2007 (3) hat man sich auf eine einheitliche Definition des Begriffs Faszie geeinigt. Faszie und Bindegewebe werden seitdem offiziell synonym verwendet, wobei Blut nach dieser Definition nicht dazu gehört. Außerdem wurde festgelegt, welche Strukturen zu den Faszien zählen, da Eigenschaften und Zusammensetzungen ähnlich sind. Demzufolge gehören Gelenkkapseln, Sehnen, Bänder, Unterhautfettgewebe, die Knochenhaut, der äußere Ring der Bandscheiben, Umhüllungen von Organen und die äußere Hirnhaut ebenso zum Fasziengewebe wie die Umhüllung der Muskelzelle, der Muskelzellbündel und der Hülle um die uns vertrauten einzelnen Muskeln und Muskelgruppen. Besonders bemerkenswert ist, dass wir wohl lange dem Irrtum aufgesessen sind, dass die verschiedenen Gewebe in „aufeinander gleitenden Schichten“ aufgebaut sind. Wie es tatsächlich in unserem Körper aussieht und wie die Gewebebewegung organisiert wird, hat eindrucksvoll der französische Chirurg Jean-Claude Guimberteau in seinem Buch Faszien - Architektur des menschlichen Fasziengewebes (4) dokumentiert. Der französische Arzt hat in zahlreichen endoskopischen Untersuchungen am lebenden Menschen nachgewiesen, dass das Fasziengewebe ein dreidimensionales Gebilde ist. Es gibt also keine voneinander getrennten Schichten, sondern unzählige Querverbindungen, die durch das Kollagen im Fasziengewebe gebildet werden. Zwar ist es wirklich schwer vorstellbar, aber begonnen bei unserem Unterhautfettgewebe über die großen Ummantelungen muskulärer Funktionseinheiten und verzweigten Verbindungen zwischen den Muskeln bis hin zur bindegewebigen Außenhaut der Muskelzellen ist tatsächlich alles miteinander als dreidimensionales Netzwerk verbunden.

Den Verbindungen zwischen den einzelnen Muskeln und deren faszialer Durchwebung hat man lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Die Erkenntnis darüber, dass Muskeln und Muskelketten nicht an den jeweiligen Ansatzpunkten enden, sondern dass durch Sektionsstudien nachgewiesene fasziale Verbindungen auch über knöcherne Ansatzstellen hinweg laufen und somit Muskel-Faszien-Ketten bilden, verändert den Blick auf die Anatomie, die funktionelle Anatomie und vor allem die als Biomechanik bezeichnete Bewegungslehre lebender Körper stark. Die faszialen Verbindungen zwischen und innerhalb der Muskeln und Organe sind keine passiven, separierten Kraftüberträger, oder bloßes „Füllmaterial“, sondern gehören zu einem aktiven und teilweise kontraktionsfähigen Zugspannungsnetzwerk (5).

Zwei grundsätzliche Verständnisfragen


Um den regelrechten „Hype“ um die Faszien besser zu verstehen, ist eine Unterteilung in eine Mikro- und eine Makroebene sinnvoll, denn zwei große Fragen stehen ja hierbei im Raum.

1. Was ist überhaupt Fasziengewebe und welche Eigenschaften hat es wirklich? (Mikroebene) und
2. Welche Auswirkungen haben die neuen Erkenntnisse für die Organisation der Bewegungen? (Makroebene).

Mikroebene


Unser Vorstellungsvermögen und unser Talent zum räumlichen Denken wird einer echten Belastungsprobe unterzogen, denn genau genommen ist das Fasziengewebe aufgrund seiner Zusammensetzung eine Flüssigkeit. Wir müssen uns nun also von der Vorstellung verabschieden, dass passive Muskelhüllen unsere Einzelmuskeln umgeben und voneinander trennen und separate Gewebsflüssigkeit das Gleiten zwischen diesen Häuten gewährleistet. Die Faszie selber gewährleistet diese Elastizität und stellt damit keine Trennungsschicht dar, sondern eine verbindende Struktur. Sie ist ein erstaunliches aktives dreidimensionales Netzwerk bis auf Muskelzellebene. Eine Trennung zwischen Faszie und Muskel ist also in der therapeutischen Intervention nicht möglich. Um sich das Fasziengewebe als Flüssigkeit vorstellen zu können, ist es hilfreich, die Einzelbestandteile zu kennen.

Im Groben besteht Fasziengewebe aus Wasser, das hierbei als Grundsubstanz bezeichnet wird, und aus Eiweißen (Proteinen), vor allem den strukturgebenden Proteinen Kollagen und Elastin. In dieses Gemenge, das als extrazelluläre Matrix bezeichnet wird, sind Bindegewebszellen, Nerven (Rezeptoren), Blutgefäße, Lymphgefäße, Fettzellen u. a. eingebunden. Die Festigkeit erhält das Fasziengewebe zum einen dadurch, dass das Wasser durch wasserbindende Zuckermoleküle der Hyaluronsäure eine hohe Zähigkeit (Viskosität) bekommt und zum anderen durch die elastischen, aber zugfesten Fasern des Kollagens und des Elastins.

Sowohl im eben beschriebenen Mikromaßstab, als auch im Makromaßstab, der im Folgenden definiert wird, stellt das Fasziensystem ein komplexes dreidimensionales Netzwerk dar. Die Dreidimensionalität entsteht im Mikromaßstab durch die Eigenschaften der Kollagenfasern, die eine polygonale Ausrichtung haben und dadurch mikroskopisch kleine dreieckige „Räume“ entstehen lassen, die in der Fachsprache als Mikrovolumina bezeichnet werden. Diese chaotisch wirkende Netzbildung der Kollagenfasern wird als Crosslink-Bildung bezeichnet (6).

Makroebene


Myofasziale Ketten, oder Muskel-Faszien-Zugbahnen, zeichnen sich durch ihren nachweisbaren fortlaufenden Kollagenfaserverlauf aus, der über weite Strecken des Körpers viele Regionen funktionell und strukturell miteinander verbindet. Auf Makroebene entsteht somit ein zusammenhängendes Spannungsnetzwerk, denn die Ketten haben auch untereinander verschiedenste Verbindungen und Kreuzungen, weswegen die Spannungsentwicklung der Muskulatur auf das Gesamtsystem übertragen wird. Dadurch ist erklärbar, dass Kraft und Bewegung nicht, wie im biomechanischen Modell lange Zeit angenommen, durch Kompression übertragen wird, sondern durch Zugspannung. Das Skelettsystem hat eher aufspannende, kraftumlenkende und abstandhaltende Funktionen und stellt nicht das tragende System mit Hebeln, Drehmomenten und Kompressionen unter Annahme der mechanischen Gesetzmäßigkeiten nach Newton und Archimedes dar.

Dieses Umdenken erklärt der amerikanische Chirurg Stephen Levin auf seiner Homepage (7) ausführlich und beschreibt den Körper als Tensegrity-Struktur, in der ein Zugspannungsgleichgewicht zwischen Muskel-Faszien- und Skelettsystem herrscht. Die Pferdetrainerin und Ausbilderin Maren Diehl hat dieses System in ihrem Buch Biotensegrity (8) auf das Pferd bezogen.

Die in der oben genannten Studie der Universität Kopenhagen (2) nachgewiesenen Kettenverläufe lassen sich folgendermaßen unterteilen:

Drei oberflächliche, lange Zugbahnen


Diese drei Ketten sind in den untenstehenden Bildern schematisch eingezeichnet und lassen sehr deutlich erkennen, dass eine intensive Verbindung besteht zwischen den Hintergliedmaßen als „Beginn“ dieser Ketten und der Genickregion als Zentrale und „Umschlagstelle“ zwischen dorsalen (zum Rücken hin), ventralen (zum Bauch hin) und lateralen (zur Seite hin) Verläufen. In der funktionellen Betrachtung dieser Ketten ist durch diese Verläufe klar, dass die Stabilisierung des Gesamtsystems von der Spannungsentwicklung der Hintergliedmaßen abhängt.

Zwei helikale Ketten


Sowohl die funktionelle, als auch die spiralförmige Kette kreuzen mehrere Male die Längsachse des Pferdes. Was im ersten Moment das bisher gewohnte Bild der Muskeleinteilungen buchstäblich zu durchkreuzen scheint, ist ein für die Stabilisierung und Balance notwendiger Verlauf, denn diagonale Aussteifungen und Abspannungen haben in allen Systemen einen stabilisierenden und materialminimierenden Effekt.

Zwei Vordergliedmaßen-Ketten


Natürlich sind die beiden Ketten der Vordergliedmaßen mit dem Rumpf verbunden und haben verschiedene Überschneidungen mit anderen Ketten. Dennoch fällt hier eine gewisse Separierung vom Rest des Körpers auf, was funktionell damit erklärt werden kann, dass die Vordergliedmaßen physiologisch kaum an der Vorwärtsbewegung beteiligt sind, sondern vielmehr als Stützorgan fungieren (8). Bei vielen Pferden ist diese naturgegebene Funktion gestört und die Vordergliedmaßen ziehen aufgrund einer mangelhaften Schubentwicklung der Hintergliedmaßen den Rumpf nach vorne. Verkürzte Vorführphasen der Vordergliedmaßen und übermäßig stark ausgebildete Muskeln in der Brust-, Schulter- und Ellbogenregion deuten auf einen unphysiologischen Bewegungsablauf hin.

Neue Entdeckung der Faszienforscher:

Die tiefe ventrale Kette des Pferdes bindet das Zwerchfell mit ein.


Den in diesem Artikel im Fokus stehenden Zusammenhang zwischen Atmung und Bewegung zeigen die Verläufe und die beteiligten Strukturen der tiefen ventralen, also bauchwärts gelegenen Kette eindrücklich. Diese tiefste Muskel-Faszien-Kette, die auch als myofaszialer Körperkern bezeichnet werden kann, ist erst kürzlich an der Universität Kopenhagen wissenschaftlich nachgewiesen worden (9). Sie stellt die Verbindung der Bauch- und Brustorgane mit dem Bewegungsapparat her und verbindet damit Innen mit Außen.

Die tiefe ventrale Kette beginnt am Hufbein mit der tiefen Beugesehne und dem zugehörigen tiefen Zehenbeugemuskel und verläuft weiter innen über das Sprunggelenk in die Adduktorenmuskulatur an den Innenseiten der Hintergliedmaßen und weiter in die Beckengürtelmuskulatur bis unterhalb der Lendenwirbelsäule. Von hier aus wird sehr deutlich, dass die tiefe Ventralkette viel Raum einnimmt, denn sie teilt sich auf in drei Verläufe, die jedoch alle in der Kopfregion enden.

Zum einen geht der Faserverlauf aus der Beckengürtelmuskulatur unterhalb der Wirbelsäule weiter in das ventrale Wirbelsäulenband, das unterhalb der Lenden- und Brustwirbelsäule die Wirbelkörper miteinander verbindet. Im Übergang zur Halswirbelsäule sind die tiefen Unterhalsmuskeln eingebunden, die bis an die Schädelbasis reichen.

Zum anderen verläuft die tiefe Ventralkette aus der Beckengürtelmuskulatur in die Zwerchfellpfeiler und weiter in das Zwerchfell. Somit ist das Zwerchfell ein sehr präsenter und voluminöser Bestandteil dieser Kette und steht bezüglich der Spannungsentwicklung unmittelbar mit dem Bewegungsrhythmus in Verbindung. Die tiefe Ventrallinie wird aber nicht nur durch das riesige Zwerchfell zu einer dreidimensionalen Kette, sondern auch dadurch, dass die fasziale Umhüllung und Durchwebung der Bauch- und Brustorgane zu ihren Bestandteilen gehört. Besonders intensiv ist der Herzbeutel durch seine direkte Verbindung zum Zwerchfell und zur Innenseite des Sternums in diese Kette eingebunden. Der am tiefsten gelegene Teil der tiefen Ventralkette führt innenliegend auf dem Brustbein entlang und mündet in die Zungenbeinmuskulatur, die hinauf zum Zungenbein führt.

Zusammenfassend kann man sich nun gut vor Augen führen, dass diese Kette in ihrer physiologischen Spannungsentwicklung in großem Maße von der Aktion der Hintergliedmaßen abhängt. Ihr Beginn mit dem tiefen Zehenbeuger macht deutlich, dass die effektiv ausgeführte Stemmphase entscheidend für die Spannungsinitiierung ist, da die tiefe Beugesehne in der Stemmphase gespannt ist. Eine aktive Schubentwicklung der Hintergliedmaßen ist somit Grundvoraussetzung für die von der harmonischen Atmung abhängende Stabilisation des Rumpfes.

Was bedeutet das für den Pferdebesitzer?

Natürlich ist es nicht zwingend notwendig, die komplizierten Verläufe des Faszien-Muskel-Systems genauestens zu kennen. Dennoch hoffe ich, das Interesse für dieses körperweite Netzwerk geweckt zu haben und dazu beitragen zu können, eine bessere Vorstellung davon zu haben, was es heißt, dass „alles zusammenhängt“. Mein besonderes Anliegen ist es, dem Pferdebesitzer die enorme Bedeutung einer freien, harmonischen Atmung zu erklären, von der wie bei uns Menschen eine positive Körperspannung abhängt, die wiederum notwendig ist, um den Rumpf zu stabilisieren und dadurch natürliche Gliedmaßenbewegung zu ermöglichen.

Der eine oder andere unter Ihnen hat möglicherweise ein Pferd mit chronischem Husten und weiß, wie sehr sich diese Einschränkung auf Körper und Psyche auswirkt. Eine kleine Anleitung zur Beobachtung des eigenen Pferdes soll hier eine Hilfe zur Selbsthilfe ermöglichen, um dann gezielter mit Fachleuten nach nachhaltigen Therapien und Trainingsverbesserungen zu suchen.

1. Körperhaltung und Körperspannung


Betrachten Sie Ihr Pferd mit etwas Abstand von der Seite, um zu beurteilen, ob die Vorder- und Hintergliedmaßen annähernd lotrecht stehen. Außerdem versuchen Sie sich selber zu beantworten, ob sich Ihr Pferd vermehrt auf der Vorhand abstützt, eine übertrieben tiefe Kopfhaltung einnimmt und übermäßig stark entwickelte Brustmuskeln und Muskeln zwischen Schulterblatt und Ellbogen entwickelt hat. Passt die Muskelentwicklung vorne zur Muskelentwicklung hinten?

2. Auspressende Ausatmung?


Ihr Blick wandert nun gezielt zur schrägen Bauchmuskulatur im Flankenbereich, um ein mögliches aktives Anspannen beim Ausatmen festzustellen. Eine sichtbare, leichte Verengung und Weitung des Brustkorbs ist natürlich, ein etwas ruckartiges, krampfiges und intensiv sichtbares Anspannen der schrägen Bauchmuskeln beim Ausatmen deutet allerdings auf eine unharmonische Atmung hin. Oftmals ist bei übermäßiger Spannung auch der Verlauf des äußeren schrägen Bauchmuskels im Übergang zwischen bindegewebigem und muskulärem Anteil sichtbar.


3. Den Atemrhythmus fühlen


Seitlich zum Pferd stehend legen Sie eine Hand auf die hintere Sattellage, die andere Hand etwa drei Hand breit hinter die Gurtlage, und rahmen damit den Verlauf des Zwerchfells ein. Nun gilt es etwas Geduld zu haben, bis sich der Brustkorb weitet und wieder verengt. Normalerweise liegt die Ruheatemfrequenz bei 8-16 x pro Minute (bei Ponys etwas schneller), wir Menschen atmen ungefähr 12-15 x pro Minute im Ruhezustand. Idealerweise blicken Sie beim Fühlen des Atmungsrhythmus auf die Flanken Ihres Pferdes und können zusätzlich sehen, ob sich die schrägen Bauchmuskeln bei Ausatmung übermäßig anspannen.

4. Rippenzwischenräume tasten


Hierbei ist Vorsicht geboten, denn oftmals sind die Muskeln in den Rippenzwischenräumen stark verspannt. Die hinteren zehn Rippenpaare des Pferdes sind besonders beweglich, um eine Weitung des Brustkorbs zu ermöglichen. Die Muskeln in den Zwischenräumen sind bezüglich ihres Faserverlaufs so angeordnet, dass sie dabei helfen, den Brustkorb zum Einatmen zu weiten, aber auch zum Ausatmen zu verengen.

Versuchen Sie, die letzte Rippe zu ertasten und davor dann in den Raum zur davorliegenden Rippe zu gleiten. Mit dem Daumen streichen Sie vorsichtig mit sehr wenig Druck diesen Zwischenraum von unten nach oben aus und beobachten erstens die Reaktion Ihres Pferdes und schätzen zweitens ein, ob hier Verspannungen tastbar sind. Zur ersten Einschätzung reicht ein Abtasten der letzten drei Zwischenräume beider Seiten aus. Diese Untersuchungsmethodik eignet sich übrigens hervorragend zur Lockerung dieser wichtigen Atemhilfsmuskeln.

5. Muskelspannung und Ausbildung der Brustmuskeln (Gurtzwang)


Der Brust- und Gurtlagenbereich vieler Pferde ist berührungsempfindlich. Oftmals deshalb, weil die Brustmuskeln verspannt sind. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass sie verstärkt als Einatmungshilfsmuskulatur eingesetzt werden, hierdurch die Belastung der Vordergliedmaßen erhöht wird und die oberflächlichen Brustmuskeln zusätzlich zum Vorziehen des Rumpfes eingesetzt werden. Hinweis auf eine derartige Entwicklung kann Gurt- und Sattelzwang geben.

 




















6. Schrittqualität


Dieser Punkt nimmt eine sehr entscheidende Rolle ein, denn leider wird das Schritttraining häufig etwas stiefmütterlich behandelt. Die Qualität des Schrittes hinsichtlich Schubphase, Beckenstabilität und Körperspannung ist sehr häufig mangelhaft. Schritt in den Kategorien „gut“ und „mangelhaft“ zu beurteilen ist nicht ganz einfach, denn die individuellen Unterschiede von Pferd zu Pferd sind groß. An erster Stelle steht für mich, auch wenn es lustig klingt, der Schritt des Menschen bei der Bodenarbeit. Pferde sind Meister der Synchronisation und es ist unlogisch, fleißig, kraftvoll und motiviert zu schreiten, wenn der Mensch an der Longe kurze, unbewusste Schritte macht und unharmonisch atmet. Es ist eine interessante Erfahrung, selber einmal ohne Pferd auf dem Reitplatz zu gehen und bewusst den Boden zum Abstoßen zu nutzen, auf einen federnden Gang, eine gute aufrichtende Körperspannung und eine bewusste tiefe Atmung zu achten. Hat man das Pferd dann an der Longe, ist es anfangs schwer, ständig auf all diese Punkte zu achten. Ein einfacher Trick ist daher, beim Gehen auf den Bodenkontakt der großen Zehen zu achten, die sich im „korrekten Schritt“ vom Boden abdrücken.
Dahinter steckt die Aktivierung unserer eigenen tiefen ventralen Muskel-Faszien-Kette, die ihre positive Spannung wie beim Pferd in der korrekt ausgeführten Stemmphase entwickelt, bei der unsere Fersen beim Abstoßen mit dem Vorfuß- und Großzehenbereich vom Boden abheben.

Bei Ihrem Pferd können Sie guten Schritt an folgenden Anhaltspunkten beurteilen:


  • Ihr Pferd wirkt insgesamt dynamisch, ohne dass Sie viel treiben müssen
  • Die Gliedmaßenbewegungen sind weit
  • Die Kopf-Hals-Position ist ungefähr so, dass das Maul knapp oberhalb des Buggelenks ist (individuell verschieden)
  • An der Vorhand ist eine Beinstreckung nach vorne erkennbar, die Schulter ist frei beweglich
  • Vorführung und Rückführung der Hintergliedmaßen sind in etwa gleich lang
  • Ihr Pferd schnaubt zufrieden ab nach einigen Minuten
  • Es sollte wenig Sand mit den Vorder- und Hinterhufen aufgeworfen werden, denn dies bedeutet stets eine „bremsende“ Bewegung
  • Die Auswärtsdrehung der Fersenhöcker an den Hintergliedmaßen (in der Betrachtung von hinten gut zu beurteilen) sollte minimal sein
  • Das Becken (zu sehen an der Position des Hüfthöckers) sollte in der Stemmphase stabil sein. Häufig kann man hier ein regelrechtes „nach unten absacken“ beobachten.

Eine meiner häufigsten Trainingsempfehlungen ist tatsächlich die Schrittarbeit, in der an den oben aufgeführten Punkten intensiv gearbeitet wird. Ziel ist es, damit den Rumpf und die Atmung so zu stabilisieren, dass die Gliedmaßen wieder in ihre natürlichen Bewegungsphasen kommen, in denen die Hinterhand Schub entwickelt und für Vorwärtsbewegung sorgt und die Vorhand ihre stützende und rumpfhebende Funktion erfüllt.

Besonderes Augenmerk bezüglich der Schrittarbeit liegt auf den Hustenpatienten, die mit dem Wunsch nach Lungenbelüftung meiner Meinung nach oftmals in viel zu schnellem Tempo und zu wenig aufgewärmt gearbeitet werden. Ist die Rippenzwischenraummuskulatur fest verspannt und das Gleichgewicht aus Zwerchfell- und Bauchmuskelspannung gestört, kann intensives und zu frühes Traben und Galoppieren dazu führen, dass diese Muskulatur noch mehr krampft und die Atmung danach sogar schlechter ist. Eine Kombination aus manueller Behandlung der Atmungsmuskulatur und intensiver Schrittarbeit, bei sich die Muskulatur langsam aufwärmt, durchblutet wird und dann der Brustkorbweitung beim Einatmen nachgeben kann, ist eine nachhaltige und sehr wirkungsvolle Behandlungsbegleitung. Bewegungsapparat und Atemmechanismus sind eben untrennbar miteinander verbunden.

Maike Knifka, Therapeutin und Ausbilderin für Osteopathie und Trainingstherapie

Literatur

(1) MYERS, T. W. Anatomy Trains, 2. Auflage, Stuttgart, Parey Verlag, 2010
(2) ELBRÖND, V. S. und SCHULTZ, R. M. Myofascial Kinetic Lines in Horses, veröffentlich im Equine Veterinary Journal, 2014
(3) Fascia Research Group, Ulm Universtity, http://www.fasciaresearch.de
(4) GUIMBERTEAU, J.-C. Faszien - Architektur des menschlichen Fasziengewebes, 1. Auflage, Berlin, KVM - Der Medizinverlag, 2016
(5) SCHLEIP, R. Faszien und Nervensystem, veröffentlicht in der Zeitschrift Osteopathische Medizin, Heft 1/2003
(6) SCHLEIP, R. u.a. Lehrbuch Faszien, 1. Auflage, München, Verlag Urban und Fischer, 2012
(7) Biotensegrity, Stephen M. Levin, MD, http://www.biotensegrity.com 
(8) DIEHL, M. Biotensegrity - Jenseits der Biomechanik, 1. Auflage, Verlag Spiritbooks, 2015
(9) Fortbildung Equine Fascia Days mit Dr. med.vet. Vibeke Södring Elbrönd u.a., Oktober 2017 in Waldalgesheim und Bingen, Arbeitsgruppe Pferd, Dr. Arno Lindner

31.05.2018

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