Saatgut für Pferdeweiden und Wiesen Teil 4

Traditionelle Wirtschaftsgräser

 

Naturschutzgebiet Ettaler Weidmoos an der Ammer bei Oberammergau. Diese extrem artenreichen Wiesen entstanden auf Moorboden unter extensiver Beweidung.

Im vorangegangenen Teil 3 dieser Artikelserie über Wirtschaftsgräser der Vergangenheit haben wir gesehen, dass unsere Vorfahren kaum über Ansaat als vielmehr über gezielte Änderung des Standorts das Grasland für ihr Vieh erzeugt haben. Etwa zwischen dem frühen 12. und dem 20. Jahrhundert wurde eine höchst ausgefeilte Kunst der Wiesenwässerung entwickelt, mit ihrer Blüte im 19. Jahrhundert (siehe: http://verlag-regionalkultur.de/buecher/natur-und-oekologie/81/waesserwiesen ). Neben der optimierten Wasserversorgung durch Ent- und Bewässerung stand die mögliche Nährstoffversorgung über das Wasser und die Erwärmung des Bodens im Fokus der Maßnahmen. Schließlich konnte man durch das unter Wasser setzen der Flächen Schädlinge wie Mäuse und Insektenlarven erfolgreich bekämpfen.

Aus Moor wird Acker

Moore und Sümpfe wurden als Unland betrachtet. Ihre Entwässerung führte zu Streuewiesen und Seggenwiesen. Nach der Entwässerung folgte die Wässerung, also die gezielte Steuerung der Wasserstände, der bachbegleitenden Wiesen. Darauf wiederum folgte die Meliorisation, also die „Verbesserung“ der Böden – und zwar durch die sogenannte Trübwässerung. Bei der Trübwässerung mit trübem Oberflächenwasser aus Bächen und Flüssen wurde kalk- und mineralienhaltiges Wasser auf die Wiesen geleitet.

 

Sumpf-Läusekraut (Pedicularis palustris) im Naturschutzgebiet Ettaler Weidmoos.

 

Aus den sauren, humusreichen Streuwiesen entstanden hierdurch Fettwiesen und Wässerwiesen, die nach wie vor gezielt in ihrem Wasserstand gesteuert wurden. Die Fett- und Wässerwiesen wurden schließlich in Ackerland verwandelt. Wo einmal Moor war, steht heute oft Mais.

 

 

 

 

 

Was ist eine Fettwiese?

Heute verstehen wir unter einer Fettwiese meistens ein Grasland aus überwiegend im Sonnenlicht glänzendem Deutschem Weidelgras (Lolium perenne), mehr oder weniger ver(un)krautet mit Löwenzahn (Taraxacum officinale). Dieser Vorstellung möchte ich einen Reisebericht aus dem Jahr 1775 von Schinz (zitiert in Oppermann & Gujer 2003) entgegensetzen:

„Auf der einen Seite hatten wir fette Wiesen, in denen der gemeine Klee mit seinen rötlichen Blumen hoch gewachsen war: Zwischen diesem stuhnden die Scabiosen, die großen Maßlieben, die Wiesensalbei, die Halbermarken, verschiedene Gattungen des Hahnenfußes, viele Gräser, und sonderbar die nützlichen Schmaalen.“

Im Gegensatz zu heute wurden früher viele unterschiedliche Gräser als Schmielen bezeichnet, unter anderem in der Schweiz das Wollige Honiggras als „Süßschmale“ und das Knaulgras als „Bollaschmale“, in Deutschland die Rasenschmiele (Schweiz: „Glanzschmelen“), die Drahtschmiele und andere Arten der Gattung Deschampsia. Zudem gibt es die Haferschmiele und den Schmielenhafer. Insofern ist nicht eindeutig, welches Gras der Autor namens Schinz meint. Aber egal, welches Gras er tatsächlich gesehen hatte, heute würden wir eine solche Fläche kaum mehr als Fettwiese bezeichnen und eher eine Naturschutzfläche vermuten. Nach Meinung unserer Vorfahren waren es insbesondere die Kleearten, die Weidevieh fett machten. Fettweiden waren also kleereiche Grasländer.

Wo grasten Pferde und Rinder?

Im vorangegangenen Artikel (Wirtschaftsgräser der Vergangenheit) war deutlich geworden, dass in Ackerbaugebieten mit guten Böden seit Ende des 18ten Jahrhunderts die Tiere oft ganzjährig aufgestallt wurden, um genug wertvollen Dünger für die Äcker zu gewinnen. Die bewässerten Wiesen wurden als Heu oder Grünfutter gemäht. Erst als man zu Beginn des 20. Jahrhunderts Zusammenhänge zwischen Tiergesundheit und Haltungsform erkannte, versuchte man das Vieh wieder aus den Ställen heraus zu bekommen. In reinen Ackerbaugebieten ging in der Zwischenzeit das Wissen um die Weidehaltung so grundlegend verloren, dass mit der Wiedereinführung der Weidehaltung den Bauern einfache Regeln an die Hand gegeben werden mussten, wie beispielsweise der richtige Zeitpunkt für das Anweiden: Spätestens mit Beginn der Kirschblüte sollte das Weidevieh angeweidet werden, um mit der Apfelblüte ganztags auf der Weide zu stehen.

Das Jungvieh lief über Sommer auf der Obstwiese, die eine Doppelnutzung mit Futtergras und Obstbau darstellte.

Zur Apfelblüte sollte das Anweiden abgeschlossen sein.

 

Ganz anders sah es in den reinen Grünlandgebieten mit schlechten oder kaum zu beackernden Böden aus. Hier fehlte es an Stroh als Einstreu (siehe Artikel Humus und Mist Teil 5). Statt Getreidefelder lieferten Streuewiesen, Heideplaggen oder anderes Material die Winterstreu. Man versuchte das Vieh so lange wie möglich draußen zu halten. Je nach Region standen dem Großvieh – überwiegend Rindern und einigen Arbeitspferden – ganz unterschiedliche Lebensräume als Weideland zur Verfügung. Allen gemein war, dass sie fast niemals mit kostbarem Mist gedüngt wurden. Mist war den Gärten und Äckern zur menschlichen Selbstversorgung vorbehalten und wurde nur hofnah eingesetzt.

Zudem handelte es sich mehrheitlich um extensiv genutzte Standweiden, seltener um intensiver bewirtschaftete Wechselweiden. Mist wurde nicht abgesammelt, sondern eher mit der Fladenschaufel gleichmäßig verteilt. Beweidet oder als Futter geschnitten wurde alles, was nicht durch andere Nutzung mehr Gewinn abwarf, auch die Wegränder. Zu den nicht ackerfähigen Grasländern zählen:

Trockenrasen und Heiden

Diese Standorte sind geprägt durch extremen Mangel an Wasser und Nährstoffen. Die Vegetation wird gebildet durch Magerkeitszeiger. Neben Heide, Wacholder und Ginstern (und Geißklee) finden sich Ruchgras sowie Kammgras und die Hainsimsen, Rotschwingel oder Honiggras ebenso wie Seggen oder das Zittergras. Letzteres, das Zittergras, wurde auch im besseren Weideland gerne als Lückenfüller gesät, wenn die Pflanzendecke zu schütter war. Bei mangelnder Beweidung der Heiden machen sich Reitgräser breit und gefährden die Heidestandorte.

Sümpfe und Moore

Egal ob nährstoffarm oder nährstoffreich: Hier liegt immer ein Überangebot an Wasser vor und verhindert die Beweidung mit schweren Tieren. Wie bereits erwähnt, dienten diese Grasländer als Futter (Heu) oder Einstreu (Strohersatz) für den Winter. Neben den Riedgräsern und der Rasenschmiele waren Pfeifengraswiesen sehr häufig. Als „Moor-Quecke“ wird das Weiche Honiggras bezeichnet. Rotschwingel macht Moorböden trittfester. Kammgras findet sich oft auf ehemaligen Hochmooren.

Gebirge, felsiger Untergrund und steile Hänge

Nicht nur die weitläufigen Almen der Hochgebirge oberhalb der Baumgrenze sind traditionelle Sommerweiden. Grasbewachsene, steile Hänge entstanden durch Rodung und Beweidung. Wendige, genügsame Gebirgsponys und einige Kaltblutrassen wurden hier neben Schafen, Ziegen und geeigneten Rinderrassen gehalten.

Bayerische Haflinger auf Talweiden in Garmisch Anfang Mai 1991.

Zu den wichtigsten Futtergräsern der deutschen Gebirge gehören Goldhafer und Horst-Rotschwingel. Goldhafer kann bei Bestandsanteilen bzw. Futteranteilen von langfristig mehr als 10% frisch oder im Heu zu Vergiftungen (Calcinose) durch Calcitrol- Überversorgung führen, insbesondere in der Höhenlage zwischen 500 und 1200 m über dem Meeresspiegel. Oberhalb von 800 m bis etwa 1700 m Höhe konnte mit Hilfe von Düngung das Rote Straußgras eine sehr geschätzte Futtergrundlage bilden. Verbreitet in den Gebirgen findet sich das Kammgras. Auf vernachlässigten Mittelgebirgsweiden (seltener in der Ebene) oft bestandsbildend war das Borstgras.

Warme Täler

Ein wichtiges Heugras warmer Täler Süd-Deutschlands und der Schweiz war der Glatthafer, der in der Schweiz „Fromental“ genannt wird. Die traditionellen, artenreichen Fromentalwiesen sind also zu Deutsch Glatthaferwiesen. Mit der Klimaerwärmung hat sich der Glatthafer auch in Norddeutschland rasant ausgebreitet, wo er inzwischen an Straßenrändern dichte Bestände bildet. Dieses Gras ist nicht weidefest, das heißt, es wird durch Vertritt und Verbiss aufgelichtet und verdrängt. Glatthafer ist ein hervorragendes Gras zur Heugewinnung vor allem dort, wo es anderen Gräsern zu trocken ist. Das Heu wird gerne gefressen. Glatthafer wehrt sich jedoch mit Abwehrstoffen gegen den Verbiss durch Tiere und wird daher frisch als grünes Gras vom Vieh zu Recht verschmäht. Zu seinen Inhaltsstoffen gehören u. a. bittere Saponine, Resine und Terpene.

Marschen

Auch die Marschen an den Küsten des norddeutschen Tieflandes sind traditionelle Grasländer mit schwierigem Ackerbau. Mehrere schwere Warmblutrassen stehen in Bezug zu den fruchtbaren Grasländern der deutschen Nordseeküste. Zu nennen sind der Holsteiner, der Hannoveraner, der Alt-Oldenburger und der Ostfriese. Der fruchtbare Boden der Küste ist extrem schwer. Zuerst zu nass und dann plötzlich zu hart zum Pflügen. Man spricht daher von „Minutenböden“, weil die Zeitspanne für die Bearbeitung extrem kurz ist. Dafür war das Weideland auf diesen Böden für seine fetten Wiesen und die Ochsenmast (Ochsenweg) berühmt. Von Viborg in Dänemark bis Hamburg wurden die Tiere über 540 km zu den Marschweiden und den dortigen Viehmärkten getrieben, um dann an Schlachter und Händler bis in die Niederlande und Frankreich verkauft zu werden.

Welche Pflanzen wuchsen auf diesen Schwemmböden? Im Einfluss des Meerwassers stand der Queller, eine Pflanze, die auch heute noch als Salat gefragt ist. Oberhalb des Quellers folgt der Andelrasen (Salz-Schwaden). Die Andel-Arten sind heute an unserer Nordseeküste auf den Viehweiden selten geworden. Auf den ausgesüßten Flächen finden sich unter anderem verschiedene Schwaden, Fuchsschwänze, Rispengräser, Straußgräser, Lieschgras, Knäuelgras, Weidelgräser, Kammgras und Schwingel. Die Grasländer der Marschen dienten der Fettweide des Mastviehs. Es war kleearm und sollte einen möglichst reinen, dichten Grasbestand aufweisen.

Gestüte mit wertvollem Weideland

Glücklicherweise gibt es für unterschiedliche Pferdezuchten Angaben zu den genutzten Futtergräsern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Interesse für die Landwirtschaft und Untersuchungsobjekt waren gesunde und langlebige Arbeitspferde der Rassen Haflinger und Süddeutsches Kaltblut. Beide Rassen wurden in einem Zuchtbetrieb nahe Wolfratshausen in Oberbayern gezüchtet, dessen Futtergrundlage Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Über die Pferde ostpreußischer Abstammung (Trakehner Pferde) für das Militär, die Wirtschaft und den Sport aus dem Hauptgestüt Trakehnen in Ostpreußen (heute Jasnaja Poljana in Russland) gibt es Unterlagen, ebenso wie über die Englischen Vollblüter aus dem Hauptgestüt Altefeld in Hessen.

Trakehner auf einer saftigen Weide eines norddeutschen Gutshofs

Arbeitspferdezucht in Oberbayern

Unweit von Wolfratshausen im Isartal wurden auf dem Boschhof nach dem zweiten Weltkrieg auf Grasland aus kultiviertem Hochmoorboden Haflinger und Süddeutsche Kaltblutpferde im Typ des ehemaligen Oberländers als Arbeitspferde für die Landwirtschaft gezüchtet. Die voralpine Lage des Grünlandes war typisch für das Gebiet. Die Vegetation der Wiesen und Weiden bestand vorwiegend aus Knaulgras, Lieschgras, Wiesenschwingel, Wiesenrispe, Weißem Straußgras (-Gruppe) und Rotschwingel (-Gruppe), die Leguminosen waren besonders durch Weißklee, Bastardklee und Sumpfschotenklee vertreten. Wo Gras und Heu dieser Flächen im Winter als Futter nicht reichten, mussten insbesondere die Fohlen mit Heu von Streuwiesen unkultivierter Moore (Riedflächen) auskommen. Getreidebau war auf diesen Böden nicht möglich, was bedeutet, dass kein Stroh (Einstreu, Futterstroh) vorhanden war und Kraftfutter komplett zugekauft werden musste.

Sumpfschotenklee, Hahnenfuß und Enzian im Naturschutzgebiet Ettaler Weidmoos

 

Die Wiesen und Weiden Trakehnens

Um das Land urbar zu machen, musste vor der Gründung des Gestüts am 11. Juli 1731 Trakehnen großflächig entwässert werden. Entsprechend wurden auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben höher gelegenen Flächen noch Schlickböden als Wiesen und Weiden genutzt.

Die Vegetation der Schlickboden-Wiesen bestand vorwiegend aus Wiesen-Fuchsschwanz, Wiesen-Lieschgras, Gewöhnlichem Rispengras, Wiesenschwingel und Rotschwingel. Die Schlickboden-Weiden zeigten Bestände aus Rotschwingel, Wiesen-Lieschgras, Gewöhnlichem Rispengras, Wiesenschwingel, Straußgras und Weißklee. Die höher gelegenen Weiden bestanden überwiegend aus Wiesenrispengras und Rotschwingel.

Entsprechend der Artenzusammensetzung wurden Mischungen für Neuansaaten zusammengestellt. Die dafür benötigen Samen von Zuchtsorten des Wiesenrispengrases, Wiesenschwingels, Wiesen-Lieschgrases und Straußgrases wurden vor Ort angebaut und gereinigt. Anbau und Vermehrung vor Ort stellen selbstverständlich eine Selektion, also eine Anpassung an den Standort, dar. Wiesenfuchsschwanz und Weißklee wurden zugekauft, ebenso Rohrglanzgras und Sumpf-Rispengras. Nicht angesät wurden Gewöhnliches Rispengras und Rotschwingel. Der Rotschwingel Trakehnens war schmalblättrig und hart und wurde nur jung von den Pferden gefressen, sonst gemieden. Er neigte ebenso wie das Gewöhnliche Rispengras zur Verfilzung und Rohhumusbildung.

Die intensiv genutzten Grasländer Trakehnens wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts je nach gemessenem Bedarf mit Mist, Kompost und Mineraldünger gedüngt, nachgesät und bei Verunkrautung nach vorübergehendem Ackerbau neu eingesät.

Grasland für Englische Vollblüter in Altefeld

Rennpferde stellen an ihre Weide und ihr Grünfutter ganz andere Ansprüche als andere landwirtschaftliche Nutztiere. Statt Gewicht, Fett, Wolle oder Milch sollen sie extreme sportliche Leistungen bringen. Dem Rennpferdezüchter ist dabei mehr als allen anderen Pferdezüchtern an einem trockenen, schlanken Pferd mit harten Gelenken und klaren Sehnen gelegen. Das Weideland ist auch der Trainingsplatz dieser Tiere. Die Vegetation muss viel Vertritt aushalten. Weicher, tiefer Boden scheidet damit von vornherein aus.

Graf Marian von Hutten-Czapski beschreibt in seinem Buch „Die Geschichte des Pferdes“ von 1876, dass die Araber die mageren, feinen Pferde der Wüste höher schätzten als die wohlgenährten, fettglänzenden Pferde der Oasen und fruchtbaren Böden. Unkundige verspotteten dagegen die aufgeschürzten, eingefallenen Wüstenpferde. Klee, dem man an den Fettweiden die entscheidende Funktion beimaß, war in europäischen Arabergestüten entsprechend als „Fettfutter“ verpönt.

Von Oettingen erzählt in seinem Buch „Die Pferdezucht“ von 1921, dass am Araber-Gestüt Slavuta (Wolhynien) des Fürsten Sangusko die Kleepflanzen mit der Pinzette aus den Weiden entfernt wurden. Beliebt waren dagegen in der Vollblutzucht die Luzerne als Königin der Futterpflanzen, und die Esparsette. Vor 2000 Jahren sollen angeblich die Vorfahren der Arabischen Vollblüter auf Luzerneweiden gegrast haben. Weder Luzerne noch Esparsette sind in Deutschland weidefest – im Gegensatz zu den einheimischen Kleearten. Von Oettingen betrachtete Klee daher als durchaus positiv. Klee führt über seine Knöllchenbakterien an den Wurzeln zur Stickstoffdüngung des Bodens, was auch den Gräsern zu Gute kommt.

Von Oettingen stand in engem Kontakt zu Prof. Carl Albert Weber. Weber war Botaniker, Moor- und Graslandexperte. Die Armut der ländlichen Bevölkerung und der Lebensmittelbedarf der steigenden Bevölkerung waren ihm sehr bewusst. Daher fühlte er sich als Botaniker verantwortlich für der Suche nach Lösungen. Die Urbarmachung der vielen Sümpfe und Moore und die Produktionssteigerung durch geeignete Grassaaten in der Weidetierhaltung beschäftigten ihn über Jahrzehnte. Er schaute nicht nur den weidenden Tieren sehr genau aufs Maul, sondern scheute auch keine Reise, um sich selber ein Bild von den unterschiedlichen Weidegrundlagen in Ostpreußen, England, den norddeutschen Küstenländern oder auf Höfen und Gestüten zu machen. Beeindruckt von den berühmten alten Fettweiden in Leicestershire war es Prof. Weber, der das Raigras (Deutsches Weidelgras, Lolium perenne) als wichtigstes Wirtschaftsgras für europäische Weiden propagierte. Leicestershire hat fruchtbare Böden, eine hohe Luftfeuchtigkeit, gleichmäßig über das Jahr verteilte Niederschläge und ein durch das Meer mildes Klima (maritimes Klima). Um dieses Gras auch für deutsche Weiden mit eher kontinentalem Einfluss nutzbar zu machen, forderte Weber die Züchtung widerstandsfähigerer Zuchtsorten dieses Grases, kombiniert mit hoher Düngung (insbesondere mit stickstoffhaltigem Mist und Jauche) und intensiver Beweidung zur Verdrängung der weniger produktiven Gräser.

Von Oettingen legte das Vollblut-Gestüt Altefeld neu an, das auch nach neuesten Erkenntnissen betrieben wurde. 1914 wurde das Weideland daher von gleich mit Anteilen von Deutschem Weidelgras eingesät. Mit den von Prof. Weber gegebenen Anweisungen zur Pflege und Nutzung dieses produktiven Graslandes konnte sich das Weidelgras auf den Flächen halten. Das Gestüt betrieb eine intensive Kompostwirtschaft, sammelte die Dunghaufen ab und versorgte seine Flächen jährlich intensiv mit organischem wie mineralischem Dünger. Auch die Bestückung der Flächen mit Weidetieren war vorbildlich: Pro Mutterstute mit Saugfohlen auf 8 bis 10 Morgen (2 bis 2,5 Hektar) weideten drei Ochsen zur Weidepflege mit. In England weideten doppelt so viele Ochsen pro Mutterstute auf doppelt so viel Fläche. Dort konnten die Tiere aber auch wegen des milden Klimas fast das ganze Jahr über auf den Weiden bleiben, während in Hessen mit seinem mehr kontinentalen Klima höchstens 7 Monate beweidet werden konnte und die Weiden 5 Monate Ruhe hatten.

Die Pferdeweiden des Gestüts Altefeld mästeten nicht nur Ochsen. Messungen von Prof. Anna Jansson (Universität Uppsala, Schweden) für die Ernährung von Trabrennpferden zeigten, dass im phänologischen Stadium des „Schossens“ geschnittenes Heu von Wirtschaftsgräsern (Zuchtsorten überwiegend von Wiesenlieschgras und Wiesenschwingel) durchaus mit Haferkörnern, also Kraftfutter, vergleichbar ist: Die Trabrennpferde können bei voller Arbeits-Leistung zu 100% mit diesem Heu ernährt werden. Unter intensiver Beweidung werden die Gräser ständig in diesem Entwicklungsstadium zwischen „Bestockung“ und „Schossen“ gehalten. Mit den entsprechenden Zuchtsorten nehmen die Weidetiere also permanent „Kraftfutter“ auf.

Nicht jede Pferderasse verträgt das, und nicht jedes Pferd erbringt eine entsprechende (Zucht-, Arbeits-) Leistung. Auf die Ansprüche freilebender Koniks habe ich bereits in der artgerecht hingewiesen
Freilebende Koniks, Teil 3: Was fressen die Koniks in Popielno?
Freilebende Koniks, Teil 4: Gesundheit der Koniks in Reservats- und Stallhaltung - Einfluß der Vegetation).

Verschiedene Gräser und Leguminosen wurden auf den Weiden der Gestüte von Rennpferden und edlen Sportpferden in Deutschland für ansaatwürdig gehalten: Wiesenrispengras, Deutsches Weidelgras, Kriechender Rotschwingel, Kammgras, Wiesenschwingel, Wiesenlieschgras, Gewöhnliches Rispengras, Weißes Straußgras (- Gruppe), Goldhafer, Weißklee, Hopfenklee, Hornklee, Luzerne und Esparsette.

Bei dem in der Pferdehaltung erwünschten „Kriechenden Rotschwingel“ handelt es sich um den Rotschwingel, den Prof. Weber unter dem botanischen Namen „Festuca rubra eurubra genuina planifolia“ (siehe: Süßgräserfibel für Pferdehalter) einordnete. Heute findet man ihn in den Bestimmungsbüchern unter „Festuca rubra ssp. rubra“. Im Gegensatz zu anderen Rotschwingeln wurde dieser Rotschwingel von den Tieren sehr gerne gefressen. Damals wie heute war und ist der von Weber geforderte Rotschwingel im Handel schwer oder gar nicht zu beschaffen. Von Oettingen ließ daher diesen von Prof. Weber persönlich identifizierten Kriechenden Echten Rotschwingel im Gestüt Altefeld 1916 auf einem gesonderten Feld zur reinen Saatgutgewinnung anbauen. Von Oettingen schwärmt, es sei

„vielleicht das für Pferde am besten geeignete Weidegras, für jeden Boden passend, für Wiesen auf leichterem Sandboden angebracht, besonders gut in Gebirgslagen bis 2200 m, ferner auf Moorwiesen und auf Hochmoor. Verträgt gut Dürre, Frost, Schatten und Berieselung. Bildet durch zahlreiche unterirdische Kringtriebe einen guten Rasen, erhält die volle Entwicklung im zweiten Jahre und ist sehr ausdauernd.“ (Zitat aus: von Oettingen, Die Pferdezucht, Paul Parey 1921).

Die Gestütsweiden aus aktueller Sicht

Weber wusste nichts über Endophyten und auch nicht, dass mit giftigen Endophyten infizierte Gräser vom Vieh oft verschmäht werden. Der Endophyt verändert das Verhalten und den Geschmack des Grases. Leider werden auch die Rotschwingel von Endophyten besiedelt, die eng mit den Mutterkornpilzen verwandt sind. Beim Rotschwingel handelt es sich um den Pilz Epichloëfestucae, einen Erstickungsschimmel („erstickt“, verhindert also die Grasblüte), englisch Choke Disease genannt. Mit Erstickungsschimmel (ein anderer Name ist Graskernpilz) befallene Gräser blühen nicht, was in der Saatgutvermehrung zum Totalausfall befallener Flächen führt. Bei der Verbreitung dieses Pilzes spielen Blumenfliegen eine große Rolle. Infizierte Rotschwingel können größere Mengen an Ergotalkaloiden enthalten und dann zur Schwingelvergiftung führen.

Beim Weißen Straußgras wurde damals zwischen den morphologisch unterschiedlichen Unterarten der Gruppe nicht oder kaum unterschieden. Darauf habe ich bereits im Teil 3 dieser Saatgutserie hingewiesen. Jüngste wissenschaftliche Veröffentlichungen haben gezeigt, dass auf regionale Besonderheiten angepasste Wiesenpflanzen (Ökotypen einer Art, autochthones Wildsaatgut) tatsächlich innerhalb Deutschlands deutliche genetische Unterschiede und unterschiedliches Verhalten (z. B. Blühzeitraum) aufweisen (Durka et al. 2016, Bucharova et al. 2016). Diese genetisch regional angepassten Wiesenpflanzen zeigten auch unter deutlich höherer Sommerhitze eine optimale Anpassung an ihren Standort. Daher befürchten die Autoren zu Recht negative Auswirkungen durch nicht angepasstes, fremdes Saatgut, speziell in Bezug auf den Klimawandel. Das gilt nicht nur für die Produktivität der Pflanzen. Eine Blüte zum falschen Zeitpunkt kann beispielsweise verheerende Auswirkungen auf die Samenbildung haben, wenn die bestäubenden Insekten oder andere Mitspieler im eng vernetzten Ökosystem gerade nicht zugegen sind. Jedes Entwicklungsstadium einer Wiesenpflanze muss optimal an Boden, Witterung, Konkurrenz und Mitspieler angepasst und zeitlich eingepasst sein, soll es nicht zu systematischen Ausfällen kommen.

Erinnern wir uns an die vorsichtigen Bauern („Wat de Bur nich kennt, dat fret he nich“ – Was der Bauer nicht kennt, dass frisst er nicht) im Teil 2 dieser Serie. Zwar betrieben die großen Gestüte eigene Grassamenvermehrung, allerdings vermehrten sie Zuchtsaatgut. Heute würde es unter „alte Kultursorte“ fallen und es fand sicherlich durch den Eigenanbau eine Selektion auf die Standortverhältnisse statt. Dennoch sind Zweifel an der Vorgehensweise angebracht: Sowohl in Trakehnen, als auch in Altefeld, beides vorbildliche Betriebe nach damals höchstem Wissensstand, wurde auf den Flächen jährlich nachgesät. Wie im Teil 2 dieser Saatgutserie frage ich: Was sagen anerkannte Experten dazu?

Die Uniformierung und damit auch Belastung des Ökosystems Grünland hat im Zuge dieser Intensivierung erheblich zugenommen. Nicht nur in den regenreichen steilen Lagen ist die hohe Besatzdichte, wie sie zum Beispiel mit intensiven Umtriebsweiden oder gar mit der Portionsweide praktiziert wird, häufig Ursache für die Beschädigung der Graslandnarbe. Lücken in der Vegetation und Verunkrautung müssen dann mit Nachsaaten oder Graslanderneuerung kostspielig repariert werden. Häufige Graslanderneuerung ist daher nicht als eine ordnungsgemäße und nachhaltig betriebene Graslandwirtschaft anzusehen.“ (Zitat aus: Dierschke & Briemle 2002)

Der Verlust an genetischer Vielfalt und Artenvielfalt spielt auch eine Rolle bei der Infektion mit giftigen Endophyten. Giftige Endophyten können unterschiedlichste Gräser infizieren, sogar Sauergräser (Canals et al. 2014). Monokulturen und artenreine Mutterpflanzenquartiere für die Saatgutproduktion werden leichter massenhaft infiziert als artenreiche Ökosysteme, in denen beispielsweise halbparasitäre Pflanzen wie die Klappertöpfe zum Gegenspieler giftiger Endophyten werden können.

Das alles ist in Hinblick auf 100 Jahre Grünlandentwicklung in der Pferdezucht und -haltung eine niederschmetternde Feststellung. Die Grasland-Entwicklung und ihre Folgen werden uns in den nächsten Teilen dieser Serie beschäftigen.

Dr. Renate Vanselow, Dipl.-Biologin

Dieser Artikel ist Teil 4 unserer Serie über Saatgut - lesen Sie weiter:

Literatur

Bucharova A, Michalski SG, Hermann JM, Heveling K, Durka W, Hölzel N, Kollmann J, Bossdorf O (2016): Genetic differentiation and regional adaptation among seed origins used for grassland restoration: lessons from a multispecies transplant experiment. Journal of Applied Ecology, http://dx.doi.org/10.1111/1365-2664.12645

Canals, R.M.; San-Emeterio, L.; Sanchez-Marquez, S.; Ruiz de los Mozos, I.; Pujol, P. & I. Zabalgogeazcoa (2014): Non-systemic fungal endophytes in Carex brevicollis may influence the toxicity of the sedge to livestock. Span. J. Agric. Res., 12(3): 623-632. http://digital.csic.es/bitstream/10261/125988/1/Nonsystemic%20fungal%20endophytes_Canals.pdf

Dierschke, H. & Briemle, G. (2002) Kulturgrasland - Wiesen, Weiden und verwandte Staudenfluren. Vlg. Eugen Ulmer, Stuttgart.

Durka W, Michalski SG, Berendzen KW, Bossdorf O, Bucharova A, Hermann JM, Hölzel N, Kollmann J (2016): Genetic differentiation within multiple common grassland plants supports seed transfer zones for ecological restoration. Journal of Applied Ecology, http://dx.doi.org/10.1111/1365-2664.12636

05.09.2017

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